- Literatur - Erwachsene

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Leseprobe
Ein Blick ins Buch
[...] Albert zog wieder behutsam an einigen Fransen und flüsterte aufgeregt:
 
„Nach Kopenhagen, bitte!“
 
Abermals erhob sich der Teppich in die Lüfte, und es dauerte nicht lange, bis unter ihnen das Meer zu sehen war. Sie flogen über mehrere grüne Inseln hinweg und landeten kurze Zeit später direkt in der Fußgängerzone der Hauptstadt.
 
Nun ja, das war zwar nicht der Vergnügungspark, aber dennoch schien niemand von dem ungewöhnlichen Gefährt Notiz zu nehmen. Damit sich daran auch nichts änderte, rollte Albert schnell seinen Teppich zusammen und machte sich auf den Weg, um die dänische Hauptstadt zu erkunden. Er stattete der kleinen Meerjungfrau einen Besuch ab, schaute sich die großen Schiffe am Hafen an, blieb andächtig vor dem Denkmal für Hans Christian Andersen stehen und kehrte schließlich wieder in die Fußgängerzone zurück.
 
‚Vielleicht sollte ich Pauline eine Karte schreiben‘, überlegte Albert Hofreiter. ‚Schließlich habe ich es auch ihr zu verdanken, dass ich mich aufgerafft habe, um mir die Welt anzusehen. Wer weiß, ob ich ohne ihren Glückskeks auf diese Idee gekommen wäre? ‘
 
Er wandte sich dem nächstgelegenen Zeitungskiosk zu und betrachtete die Ansichtskarten, die dort angeboten wurden. Letztendlich entschied er sich für ein Foto von der kleinen Meerjungfrau.
 
‚Kleine Mädchen mögen Nixen doch bestimmt‘, dachte er. Er nahm die Karte aus dem Ständer und ging in den Laden, um zu bezahlen.
 
Als er wieder auf die Straße hinaustrat, spürte er, dass er mit der Teppichrolle irgendwo angestoßen war.
 
„He, du! So klein bin ich nun auch nicht, dass du mich unbedingt übersehen musst!“
 
Diesmal war sich Albert sicher, dass er sich nicht verhört hatte. Doch wer hatte da mit ihm gesprochen? So gründlich er sich auch umsah, er konnte niemanden entdecken.
 
„Hi-ier! Hier unten! Unter der Zeitung!“
 
Albert schaute unwillkürlich an sich herunter und erblickte tatsächlich eine Zeitung, die scheinbar in der Luft schwebte. Er hob sie hoch und traute seinen Augen nicht! Unter dem Papier kam wirklich und wahrhaftig ein Troll zum Vorschein. Dieser war zwar aus Holz, doch hinderte ihn das keineswegs daran, mit Albert zu reden.
 
Nun wollte der alte Mann es genau wissen.
 
„Du kannst sprechen?“, fragte er erstaunt.
 
„Ja, und du hast wohl den Drang, das Offensichtliche auch noch in Worte zu fassen“, gab der Troll wie aus der Pistole geschossen zurück.
 
Da Albert immer noch um Fassung rang, fügte der Holztroll hinzu:
 
„Du denkst auch, ein fliegender Teppich taugt nur zum Fliegen, was?“
 
Wenn Albert ehrlich war, hatte er das bis zu diesem Moment tatsächlich geglaubt, und auch das war ihm schon höchst seltsam erschienen. Dass sein neues Gefährt aber außerdem noch andere Zauberkräfte haben sollte, hielt er für mehr als unwahrscheinlich. Dieser Sache würde er bei nächstbester Gelegenheit unbedingt noch einmal selbst auf den Grund gehen müssen. Jetzt war dafür allerdings keine Zeit, denn der Troll war heilfroh, endlich jemanden gefunden zu haben, dem er seine Geschichte erzählen konnte.
 
„Ich sage dir eins“, hob er an. „Trage deine Nase nie so hoch, dass ein anderer sie als Ablage benutzen kann!“
 
Albert wollte gerade fragen, wie er das wohl gemeint habe, als ihm einfiel, dass auch er den Troll zunächst für eine Zeitungsablage gehalten hatte. Doch was sollte das mit dem Hochmut zu tun haben?
 
„Bist du denn hochnäsig?“, erkundigte er sich.        
 
„Jetzt nicht mehr“, erwiderte der Troll. „Aber das nützt mir leider nichts. Mein Fehler war, dass ich hochnäsig war. Das kommt mich nun teuer zu stehen.“
 
„Hat dich der Kioskverkäufer als Zeitungsständer angestellt?“
 
„Nein, wo denkst du hin? Das hätte ein Sterblicher niemals gewagt. Es wäre ihm, unter uns gesagt, auch schlecht bekommen.“
 
„Wer hat dich dann in diese Lage gebracht?“
 
„Na, wer wohl? Eine Fee natürlich.“
 
Albert hatte Mühe, dem Troll zu folgen.
 
„Wieso – natürlich?“, fragte er nach.
 
Der Troll setzte sich im Schneidersitz vor ihn hin und bedeutete auch Albert, Platz zu nehmen.
 
„Ich sehe schon, dir muss ich alles von Anfang an erklären. Also pass auf:  Die wichtigsten Figuren der hiesigen Märchen sind wir, die Trolle, und … nun ja … die Feen eben. Mit einer von ihnen bin ich vor einer Weile in einen Streit geraten, wer von uns bedeutender ist. Ja, ja, ich weiß, sie können zaubern und tun viel Gutes, aber mal ehrlich: Ohne unseren Schabernack wäre das alles doch viel, viel langweiliger! Deshalb habe ich versucht, dieser Fee klarzumachen, dass die ganzen Märchen ohne uns Trolle nicht einmal die Hälfte wert wären. Für diese Überheblichkeit hat sie mich bestraft, und nun muss ich hier tagein, tagaus mit hoch erhobener Nase als Zeitungsständer fungieren.“
 
Albert hatte zwar ein wenig Mitleid mit dem Troll, konnte aber trotzdem nicht an sich halten und antwortete:
 
„Aber wenn du ehrlich bist, musst du doch zugeben, dass die Fee nicht ganz unrecht hatte, oder?“
 
„Nein“, flüsterte der Troll kleinlaut, fügte dann jedoch hinzu: „Das sage ich jetzt aber nur, weil ich weiß, dass es außer dir niemand hören kann und dass dir, solltest du es weitererzählen wollen, sowieso niemand glauben würde, dass du mit einem echten Troll geredet hast.“
 
In diesem Punkt musste Albert seinem hölzernen Gesprächspartner unumwunden zustimmen; schließlich konnte er selbst kaum glauben, was da gerade um ihn herum geschah. [...]
 
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