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Leseproben
Ein kleiner Berg mit einer kleinen Figur
Diesmal ging es bedeutend höher hinaus, und es dauerte gar nicht lange, bis vor ihnen ein Berg auftauchte.

„Nanu?“, wunderte sich Benny. „Ich dachte, das Gebirge ist noch ein Stückchen von hier entfernt.“

„Zweifellos“, stimmte der Drache zu. „Bis zu den Pyrenäen sind es weit mehr als hundert Kilometer, aber innerhalb von Barcelona gibt es zwei kleinere Erhebungen, den etwa 500 Meter hohen Tibidabo mit einem großen Vergnügungspark und den Montjuïc, zu dem wir gerade fliegen. Er ist allerdings nur 200 Meter hoch.“

Kaum hatte er diese Worte zu Ende gesprochen, setzte Dragú auch schon zur Landung an und kam vor einem weißen Gebäude zu stehen.

„Hallo, Dragú!“, tönte gleich darauf eine erfreute Begrüßung durch die Nacht, und ein metallenes Wesen mit großem Kopf und kurzen Ärmchen kam auf dünnen Beinen auf sie zu gelaufen.
 
„Hallo, mein Kleiner!“, begrüßte Dragú das Wesen, und Benny konnte es sich nicht länger verkneifen zu fragen:
 
„Wer ist das?“
 
„Ich bin eine Figur“, antwortete die Figur. „Joan Miró hat mich erschaffen.“
 
Aha, daher wehte also der Wind! Seit seiner Bekanntschaft mit Dragú hatte Benny aufgehört, sich über Skulpturen zu wundern, die zum Leben erwacht waren.
 
„Dann kannst du mir also auch etwas über deinen Schöpfer erzählen?“, wollte er von der Figur wissen.
 
„Au ja, gern, wenn du es hören willst!“, freute sich der Kleine. „Du wirst es nicht bereuen! Mein Schöpfer war nämlich der berühmteste Künstler nach Dragús Schöpfer, der in Barcelona geboren wurde. Er hat immer besonders viel Wert darauf gelegt, Katalane zu sein. In dem Gebäude hinter mir befindet sich ein Museum, das ihm schon zu Lebzeiten gewidmet wurde und das mehr als zehntausend seiner Werke enthält. Joan Miró war ein sehr bedeutender Vertreter der modernen Kunst im vorigen Jahrhundert, und viele seiner meist farbenfrohen Werke kannst du auch heute noch im Stadtbild von Barcelona bewundern – ein großes Wandbild am Flughafen, die riesige Skulptur ‚Frau und Vogel‘ inmitten eines Wasserbeckens in einem Park und ein Mosaik, das auf einer Kreuzung der Ramblas mit einer Querstraße in den Boden eingelassen ist. Du erkennst sie an den geometrischen Formen und den klaren Farben – Rot, Gelb, Blau und so weiter. Auch das Logo der bekanntesten Sparkasse hier stammt von Miró. Manche halten es für einen Stern und einen Kreis, andere sagen, es sei ein Mensch, der eine Münze in eine Sparbüchse wirft. Übrigens hat mein Schöpfer selbst vor fast fünfzig Jahren den Wunsch geäußert, seiner Stadt diese Werke zu schenken.“
 
„Vor fünfzig Jahren?“, fragte der Junge erstaunt. „Sind wir denn mit unserer Zeitreise schon so nah an der Gegenwart angekommen?“
 
„Nicht ganz“, erwiderte Dragú. „Du passt aber wirklich gut auf, denn auch wenn der Künstler, der unseren kleinen Freund hier erschaffen hat, erst vor dreißig Jahren gestorben ist, steht dieser Berg für das zweite wichtige Ereignis in Barcelonas Stadtgeschichte – die Weltausstellung von 1929.“
 
„Aber den Berg gibt es doch bestimmt schon viel länger?“, warf Benny ein.
 
„Das schon. Die wichtigsten Gebäude, die man bis heute weithin sieht, wurden jedoch für diese Ausstellung gebaut, zum Beispiel der Nationalpalast, in dem sich das Museum für Katalanische Kunst befindet.“
 
„Ist das der Palast, der ganz oben auf dem Berg steht?“, fragte der Junge nach.
 
„Genau, genau!“, bestätigte die Figur und hüpfte vor Freude wieder um ihn herum. „Aber weißt du, was noch schöner ist?“, fuhr das kleine Wesen fort, und sein Blick bekam ein verträumtes Leuchten: „Der Zauberbrunnen!“
 
„Der Zauberbrunnen?“ Benny stutzte. Wenn hier schon Keramik- und Bronzefiguren mit ihm sprachen, gehörte so ein Brunnen doch bestimmt auch ins Reich der Märchen und Sagen. Dennoch machte er der Figur die Freude und erkundigte sich:
 
„Hat dieser Brunnen wirklich Zauberkräfte?“
 
„Hi, hi, hi!“ Wieder sprang das kleine Etwas von einem Bein aufs andere, blieb dann aber vor dem Jungen stehen, sah ihm tief in die Augen und erwiderte eindeutig:
 
„Nein! Aber das macht überhaupt nichts, weil der Brunnen trotzdem überirdisch schön ist – zumindest von Donnerstag bis Sonntag!“
 
Nun verstand Benny überhaupt nichts mehr:
 
„Wieso ist er denn nur an vier Tagen schön?“, wunderte er sich, und diesmal half Dragú ihm weiter.
 
„Weil er an diesen Tagen abends in vielen Farben angestrahlt wird und die Wasserstrahlen laufend ihre Form ändern. Dazu erklingt Musik, und so ist es gewissermaßen ein Wasserballett der ganz besonderen Art.“
 
„Können wir da nicht hinfliegen?“, bat Benny aufgeregt, der sich von der Begeisterung der beiden anderen hatte anstecken lassen.
 
Doch Dragú schüttelte bedauernd den Kopf.
 
„Dieses Schauspiel findet immer abends statt, und jetzt ist es doch schon mitten in der Nacht. Du solltest dieses Erlebnis mit deinen Eltern zusammen genießen! Weiterfliegen müssen wir aber trotzdem, denn es dauert nicht mehr lange bis zum Morgengrauen, und wir wollen unsere Zeitreise doch noch zu Ende bringen, stimmt’s?“
 
Benny nickte und verabschiedete sich schweren Herzens von der freundlichen Figur. Dragú aber flog zum Gruß noch eine extra große Runde über den Montjuïc, ehe sie sich auf den Weg zu neuen Entdeckungen machten.
 
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