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Leseproben
Zwei ungleiche Schwestern
Nachdem sie eine Weile geritten waren, standen Constantin und Freddy auf einem großen Platz vor einem wunderschönen Tor.

„Hier war ich schon einmal“, erklärte der Junge. „Das ist das Brandenburger Tor, und die Quadriga kenne ich auch schon.“ Dann aber stutzte er. Der Streitwagen mit den vier Pferden war nach wie vor an seinem Platz, aber…

„Nanu“, wunderte er sich. „Wo ist denn Viktoria, die Siegesgöttin? Sie hat doch immer auf dem Tor gestanden.“

„Das ist schön, dass du mich kennst und dass dir sofort auffällt, wenn ich nicht da bin“, ließ sich nun eine weibliche Stimme vernehmen. „Allerdings muss ich dich ein wenig korrigieren. Ich habe nur fast immer hier gestanden. Mit der Siegesgöttin hast du durchaus recht, allerdings sollte ich ursprünglich nicht Viktoria, sondern die Siegesgöttin Nike und die Friedensgöttin Eirene gleichzeitig verkörpern. Mit uns Denkmälern ist es nämlich so eine Sache – wir sind bei Weitem nicht immer das, was wir auf den ersten Blick zu sein scheinen.“

„Das habe ich bei Friedrich Schiller auch schon bemerkt“, gab Constantin zu. „Er sieht auf seinem Denkmal eher aus wie ein römischer Feldherr als wie ein Dichter.“

„Siehst du“, sagte die Frau, von der Constantin nun gar nicht mehr wusste, welcher denn ihr richtiger Name war. „Als das Brandenburger Tor vor mehr als 200 Jahren gebaut wurde, hatte mein Schöpfer, Johann Gottfried Schadow im Sinn, die Quadriga von einer Friedensbringerin führen zu lassen. In seinem Vertrag stand aber, dass er eine Siegesgöttin schaffen sollte. Und weil ich den Menschen hier als Nike zu wenig bekleidet war, bekam ich das lange Gewand. So kam es wohl zu dem ersten Durcheinander. Doch das war noch lange nicht das Ende. Du ahnst ja nicht, was ich mit der Quadriga schon alles erlebt habe. Kaum hatte ich mich hier oben häuslich eingerichtet, wurde ich 1806 von französischen Truppen auf Befehl Napoleons geraubt und bis nach Paris verschleppt. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis ich an meinen angestammten Platz zurückkehrte. Aus Freude darüber, dass Napoleon inzwischen besiegt war, ersetzte Schinkel …“

„… der, der auch das Schauspielhaus gebaut hat?“

Constantin hatte so atemlos zugehört, dass er gar nicht bemerkte, dass seine Gesprächspartnerin noch nicht zu Ende erzählt hatte. Diese nahm ihm die Zwischenfrage jedoch nicht übel, sondern bestätigte:

„Ganz genau, eben jener Baumeister ersetzte den Lorbeerkranz, den ich als Friedenssymbol in meiner Hand durch ein Eisernes Kreuz im Eichenlaubkranz, das Symbol für kriegerische Verdienste. So verwandelte er mich sozusagen in die Siegesgöttin Viktoria. Aber unter uns gesagt, mir ist die Funktion als Friedensstifterin bis heute wesentlich lieber, und deshalb hoffe ich, dass auch dieser Teil meiner Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.“

Constantin versprach, in Zukunft stets daran zu denken, wenn er am Brandenburger Tor stehen würde, und Freddy sagte:

„Aber das ist doch noch längst nicht alles, was man über dieses Tor wissen sollte, stimmt’s?“

Die Göttin nickte, und Constantin rief:

„Richtig, dieses Tor findet man auf allen goldfarbenen Centmünzen, das muss doch einen Grund haben, oder?“

„Oh ja“, erwiderte Freddy. „Es hat für unsere Stadt eine ganz besondere Bedeutung, die es unter allen übrigen Stadttoren heraushebt.“

„Gibt es denn noch mehr Tore?“, wollte Constantin wissen.

„Inzwischen nicht mehr so direkt, aber die Bezeichnungen an manchen Straßenkreuzungen und bisweilen auch Teile der Tore sind geblieben – vielleicht kennst du ja das Frankfurter Tor oder das Hallesche Tor. Sie alle gehörten zur Berliner Zollmauer, die im 18. und 19. Jahrhundert gebaut wurde, um den Handel zu kontrollieren. Insgesamt gab es 18 Tore.“

„War das die berühmte Berliner Mauer, von der in den Zeitungen und Geschichtsbüchern so oft die Rede ist?“, fragte der Junge weiter.

„Oh nein“, antwortete nun wieder die Göttin. „Glaub mir, über diese Mauer kann ich dir mehr erzählen, als mir lieb ist. Sie trennte in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts 28 Jahre lang den Ostteil unserer Stadt vom Westteil, und das direkt zu meinen Füßen. Auch das war eine Folge des schrecklichen Krieges, und wir waren alle heilfroh, als die Teilung der Stadt endlich der Vergangenheit angehörte. Stell dir das einmal vor – zu jener Zeit konnte ich selbst meine Schwester nur von Weitem sehen, obwohl wir eigentlich gar nicht weit voneinander entfernt stehen. Nun aber ist die Stadt zum Glück wieder eins, und aus dem Symbol der Teilung ist wieder ein Symbol der Gemeinsamkeit geworden. Weil das für unser ganzes Land von großer Bedeutung ist, findest du das Tor auch auf den Münzen.“

Constantins Augen wurden immer größer.

„Was denn für eine Schwester?“, fragte er erstaunt. Die Göttin wies mit einer Hand durch das Tor, eine große Straße entlang.

„Viktoria, die Siegesgöttin“, sagte sie, und Constantin brauchte einen Moment, um sich klarzumachen, dass sie selbst ja ursprünglich gar nicht Viktoria darstellen sollte. Als er nickte, weil er verstanden hatte, fuhr die Göttin fort:

„Allerdings hat sie es mit ihrem Spitznamen nicht ganz so gut getroffen. Die Berliner haben sie von Anfang an die ‚Goldelse‘ genannt. Nur, weil sie vollständig vergoldet ist und zu der Zeit ein Fortsetzungsroman mit diesem Titel in einer sehr beliebten Zeitschrift erschien. Dabei thront sie oben auf der Siegessäule und sollte eigentlich etwas erhabener wirken.“

Constantin musste über den ungewöhnlichen Namen lachen, dann sagte er aber:

„Immerhin konnte sie im Gegensatz zu dir immer am selben Ort stehen. Ich könnte mir vorstellen, dass das für eine Statue das Angenehmste ist.“

Die Göttin nickte.

„Damit hast du völlig recht. Allerdings hat auch meine Schwester nicht immer ihre Ruhe gehabt. Als sie vor etwa 140 Jahren errichtet wurde, stand sie nämlich an einem anderen Ort – nicht weit von hier, auf dem Platz vor dem Reichstag. Als es dann vor achtzig Jahren Pläne gab, Berlin komplett umzugestalten, bekam die Siegessäule eine Etage mehr und einen neuen Platz. Deshalb findest du sie jetzt in der Mitte des Großen Sterns, einer der am stärksten befahrenen Kreuzungen unserer Stadt. Glaube mir, darum beneide ich sie wirklich nicht.“

„Ganz ruhig ist es hier aber auch nicht gerade“, wandte Constantin ein.

„Nein“, antwortete die Göttin, „und wer wüsste das besser als ich. An den Trubel auf dem Pariser Platz zu meinen Füßen habe ich mich im Laufe der Jahrhunderte gewöhnt. Da war es mit der Beschaulichkeit schon vorbei, als die Pferdedroschken in Mode kamen. Aber du ahnst ja nicht, was sich ab und zu in meinem Rücken abspielt: Silvesterfeiern, Konzerte zu historischen Ereignissen, Modenschauen und seit einigen Jahren sogar Partys von Abertausenden von Fußballfans. Du wirst es nicht glauben, meine Schwester ist selbst schon ein Fußballfan geworden. Immer wenn irgendwo eine große Leinwand aufgebaut ist, vor der sich die Leute treffen, um sich ein Spiel anzusehen, reckt sie ihren Kopf besonders in die Höhe, um noch ein bisschen höher zu sein als die sonstigen fast 67 Meter und nur ja nichts zu verpassen.“

Die Göttin schüttelte ein wenig missbilligend des Kopf.

„Ich weiß nicht, ob sich das für unsereinen geziemt. Ich für meinen Teil halte wenig von so viel Volksnähe.“

In diesem Moment schlug sie sich allerdings ganz ungöttlich mit der Hand an die Stirn und rief aus:

„Das kann doch nicht wahr sein! Das Wichtigste hätte ich über unserem Geplauder ja nun doch fast vergessen! Ich wollte dir doch etwas über mein Tor erzählen! Das muss ich nun aber ganz schnell nachholen. Wie gesagt, bereits seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand hier ein Tor, das zur Berliner Zollmauer gehörte. Kurz nach dem Tod Friedrichs II. wurde es auf Befehl seines Neffen und Nachfolgers Friedrich Wilhelm II. umgebaut, der so an seinen Onkel erinnern wollte. Der Architekt des Tores, wie du es heute siehst, war Carl Gotthard Langhans. Zu jener Zeit lehnte man Bauwerke gern an die Traditionen der Antike an, deshalb ähnelt das Brandenburger Tor etwas, das Langhans für das Stadttor von Athen hielt. Er hatte es auf Abbildungen gesehen, in Wirklichkeit war das aber der Eingang zur Akropolis. Auch dort ist der Mittelgang breiter als die seitlichen, und unser Baumeister plante das Brandenburger Tor so, damit die Kutschen der Könige in der Mitte durch das Tor fahren konnten und die übrigen Gespanne zu beiden Seiten. Ich kam dann ein wenig später dazu, und den Rest der Geschichte kennst du ja bereits.“

Mit diesen Worten war die Göttin verschwunden, und als Constantin sich umsah, stand sie bereits wieder auf dem Tor und lenkte die Quadriga.
 
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