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Die Höhle des Zauberers Bibliolectus


Jean lebte in Frankreichs Hauptstadt Paris, Richard in Stratford, einer kleinen Stadt in England, und Francesco wohnte in Triest an der italienischen Adriaküste. Sie alle taten das, was Jungen in ihrem Alter am liebsten tun: Fernsehen, Computerspiele spielen, und am liebsten hätten sie stundenlang mit ihren Handys dagesessen und wären gar nicht aus dem Haus gegangen. Weil sie so damit beschäftigt waren, merkten sie überhaupt nicht, dass nach und nach die Bücher aus ihren Zimmern verschwanden. Im Gegenteil: Sie freuten sich, denn nun hatten sie endlich mehr Platz für neue Computerspiele.

Eines Abends aber, es war in der Vorweihnachtszeit, bekam Jean wieder Lust auf ein richtiges Märchen. Er sehnte sich danach, sich etwas vorlesen zu lassen und sich die vielen Zauberer und Hexen, die Ritter und Drachen selbst vorzustellen, ohne auf einem Bildschirm gezeigt zu bekommen, wie sie aussahen. Wie groß war aber sein Erstaunen, als er in seinem Kinderzimmer nicht ein einziges Buch mehr vorfand! Für diesen Abend würde es mit dem Vorlesen wohl nichts werden.

Am nächsten Morgen nahm Jean sein ganzes Taschengeld zusammen und fuhr ins Stadtzentrum, um sich ein Märchenbuch zu kaufen, doch dazu sollte es nicht kommen. Kaum hatte Jean die Buchhandlung betreten, sah er, dass in den Regalen gähnende Leere herrschte.
„Wo sind denn all die Bücher hin?“, fragte Jean die Verkäuferin.
„Das weiß ich auch nicht“, antwortete diese. „Es sind schon lange keine mehr gekauft worden, und auf einmal waren sie alle fort.“
Jean trat wie benommen auf die Straße hinaus. Er versuchte sein Glück noch in mehreren Buchhandlungen, doch überall bot sich ihm dasselbe Bild: Die Bücher waren und blieben verschwunden.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Jean noch nicht, dass seine Stadt bei Weitem nicht die einzige war, in der es auf einmal keine Bücher mehr gab. Auch Richard erging es ähnlich. Er wollte für die Schule ein Buch von einem großen englischen Dichter lesen, der vor vielen Hundert Jahren in derselben Stadt gelebt hatte wie Richard. Doch auch Richard hatte keinen Erfolg mit seiner Suche nach einem Buch. „Es ist doch wirklich wie verhext!“, rief er aus, als er merkte, dass er mit seiner Suche nicht weiterkam. Der Junge ahnte gar nicht, wie recht er damit hatte!

In einer Straße in Triest hatte Francesco ein Denkmal gesehen. Es sah aus, als ginge ein Mensch dort seinen alltäglichen Verrichtungen nach. Doch als Francesco näher kam, wurde ihm klar, dass das kein richtiger Mensch war, sondern eine Figur aus Metall. Auf der Tafel, die in den Boden eingelassen war, darunter hatte er gelesen, dass der Mann, der dort in Bronze stand, ein berühmter Schriftsteller gewesen war. Nun wollte Francesco mehr über ihn erfahren. Doch auch er fand nicht ein einziges Buch.
Keiner der drei ahnte etwas von den Sorgen der anderen, denn sie kannten einander ja nicht einmal.

Jean schlenderte traurig durch das Zentrum von Paris, als er auf einmal auf einem großen, lichtdurchfluteten Platz stand, und es schien, als würde ein Sonnenstrahl ihm etwas zeigen wollen. Er folgte dem Strahl mit seinem Blick – und tatsächlich: Vor ihm lag ein glänzender roter Stein. Jean hob ihn auf und traute seinen Augen nicht, als von diesem Stein wiederum ein gleißender Lichtstrahl ausging. Wie von Zauberhand wurde Jean auf den Strahl gehoben, und wie auf einer riesigen Rutschbahn bewegte er sich, ohne dass er etwas hätte dagegen tun können, auf dem Strahl entlang. Genauso erging es Richard und Francesco. Richard fand einen grünen Stein vor dem Geburtshaus des großen Dichters und Francesco einen lilafarbenen am Denkmal des Schriftstellers. Beide schlitterten ebenso einem ungewissen Ziel entgegen wie vorher Jean, und alle drei hielten ihre Steine fest in der Hand. Am Ende der drei Lichtstrahlen angekommen, begegneten sich Jean, Richard und Francesco zum ersten Mal. Sie standen auf einem kleinen Felsvorsprung an der französischen Mittelmeerküste und hatten keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen waren.

Jean ergriff als Erster das Wort:
„Hallo, woher kommt ihr? Ich wollte eigentlich nur ein Märchenbuch kaufen, und nun bin ich auf einmal hier gelandet.“
Richard und Francesco konnten es kaum glauben:
„Du wolltest auch ein Buch kaufen? Genau dasselbe hatten wir ja auch vor! Hast du eines gefunden?“
„Nein“, sagte Jean kleinlaut. „In der ganzen Stadt gab es kein einziges Buch.“
Richard und Francesco nickten verständnisvoll, und Jean fuhr fort:
„Das Einzige, was ich gefunden habe, war dieser Stein hier.“
Er zeigte ihn den beiden anderen Jungen, und daraufhin holten auch sie ihre Steine heraus. In diesem Moment geschah etwas Wunderbares: Die Lichtstrahlen der Steine verbanden sich zu einem starken weißen Strahl, und genau an der Stelle, wo der Strahl hinzeigte, bohrte sich ein großer Pfeil in die Erde.
„Das ist ein Zeichen“, sagte Francesco. „Dieser Pfeil will uns bestimmt etwas sagen!“
Richard verstand nicht ganz.
„Wie meinst du das?“
Jean, der Francesco verstanden hatte, erklärte es Richard:
„Ich glaube, wir müssen mit unseren Steinen zu dem Pfeil gehen. Vielleicht liegt dort des Rätsels Lösung.

Gesagt – getan.

Die drei Jungen stiegen den Felsvorsprung hinab, und als sie direkt unter dem Pfeil standen, verbanden sich die Strahlen ihrer Steine erneut, und im Felsen öffnete sich eine Tür, die vorher niemand von ihnen bemerkt hatte. Vorsichtig traten die Jungen durch die Öffnung und standen auf einmal in einer großen Höhle. Sie sahen sich um und erblickten am Ende der Höhle einen alten Mann, der inmitten unzähliger Bücher saß. Jean, Richard und Francesco begannen zu ahnen, dass ihre Suche nach den Büchern etwas damit zu tun hatte, dass sie nun in der Höhle standen.

„Seid mir gegrüßt“, sagte der alte Mann. „Ihr fragt euch sicher, warum ihr hier seid!“
Die Jungen nickten, und der Mann fuhr fort:
„Ich bin der Zauberer Bibliolectus. Seit Tausenden von Jahren behüte ich die Bücher der Menschen. Ich passe auf, dass sie nicht durch Fluten und Feuersbrünste zerstört werden. In letzter Zeit habe ich immer mehr den Eindruck gewonnen, dass die Menschen meine Schätze nicht mehr brauchen. Es gibt Radios, Fernseher und Computer, und wer etwas wissen möchte, holt sich die Information viel eher dort, als dass er ein gutes altes Buch zur Hand nimmt. Deshalb habe ich die Bücher hierher gezaubert, damit sie nicht unter der Missachtung der Menschen leiden.“

Die Jungen waren zwar noch sehr verwundert über diese merkwürdige Begegnung, doch Jean fasste sich als Erster ein Herz und antwortete:
„Aber wir brauchen die Bücher doch. Wie soll denn in der Weihnachtszeit Gemütlichkeit aufkommen, wenn nicht mehr vorgelesen wird?“
Nun schloss sich auch Richard ihm an:
„Wie soll ich denn etwas über einen großen Dichter herausfinden, der schon viele Hundert Jahre nicht mehr lebt, wenn ich nicht in den alten Büchern stöbern kann?“
Und Francesco fügte hinzu:
„Wie soll ich einen Schriftsteller kennenlernen, wenn ich seine Bücher nicht lesen kann?“
Zum ersten Mal, seit sie die Höhle betreten hatten, sah der Zauberer Bibliolectus sie nicht mehr streng an, sondern lächelte ihnen zu.
„Seht ihr“, sagte er. „Das war ein Teil meines Plans. Ich habe mir, als ich die Bücher hierher gezaubert habe, die Frage gestellt, ob sie wohl jemand vermissen würde.
Deshalb habe ich meinen Zauber an eine Bedingung geknüpft. Sie besagt, dass der Zauber aufgehoben wird, wenn drei Menschen in drei verschiedenen Ländern zeigen, dass ihnen die Bücher fehlen und dass sie sie gern wieder bei sich hätten. Ich gratuliere euch: Ihr habt es geschafft! Nur weil ihr euch bemüht habt, die Bücher wiederzufinden, können nun alle Bände wieder dorthin zurückkehren, von wo ich sie fortgezaubert hatte: in die Schulen und Bibliotheken, in die Buchhandlungen und zum Glück auch in die Kinderzimmer. Hätte nur einer von euch seine Suche früher aufgegeben, wären die Bücher für immer hier geblieben! Hütet sie gut und denkt immer daran, dass die Bücher Menschen brauchen, die sie lesen!“

Mit diesen Worten war der Zauberer verschwunden, und Jean, Richard und Francesco kehrten mit den Strahlen ihrer Steine nach Hause zurück. Alle drei waren sehr erleichtert, als sie dort auch die Bücher vorfanden, und sie waren stolz, weil sie es gemeinsam geschafft hatten, diesen Schatz für die Menschen zu retten.
          
 
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