- Literatur - Kinder

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Der doppelte Clown

 
 
Der Knopf war das Auffälligste am Kostüm von Clown Schlemil. Eigentlich war es ein ganz gewöhnliches Clownskostüm, und damit es fröhlicher aussah, prangte in der Mitte ein orangefarbener Knopf. Die Kinder liebten den Clown, und viele von ihnen kamen nur seinetwegen in den Zirkus. Es war kein besonders großer Zirkus, und Clown Schlemil stammte aus einer alten Zirkusfamilie. Er hatte nie ein anderes Zuhause gehabt. Er war im Zirkus aufgewachsen, in einem der Zirkuswagen zur Schule gegangen, und schon seine Eltern und Großeltern hatten jeden Tag in der Manege gearbeitet. Deshalb hatte er es als Kind für das Selbstverständlichste der Welt gehalten, immer nur ein paar Tage an einem Ort zu bleiben und dann weiterzuziehen. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, dass man woanders wohnen könnte als in einem der bunten Wagen und dass man seine Zeit woanders verbringen könnte als zwischen all den Tieren und mit den Artisten unter der Zirkuskuppel.

 
Eines Tages aber hatte er seine Mutter gefragt, wo die vielen Leute, die im Zirkus auf den Bänken saßen, abends eigentlich hingingen, wenn die Vorstellung vorüber war. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass sie in Häusern wohnten, die nicht umherfuhren, und dass viele von ihnen ihr ganzes Leben an ein und demselben Ort verbrachten. Das war Schlemil höchst merkwürdig vorgekommen.

 
Inzwischen war Schlemil erwachsen geworden. Immer noch war er der Liebling der Kinder, und immer noch fuhr er mit den Zirkuswagen, deren Bewohner seine Familie waren, von Stadt zu Stadt. Doch in letzter Zeit konnte man unter der weißen Schminke in seinem Gesicht immer öfter sehen, dass er nicht ganz bei der Sache war. Er hing seinen Gedanken nach, und eines Tages fragte ihn der Zauberer Benfiori:

 
„He, Schlemil! Du siehst so traurig aus. Was ist los mit dir?“
 
Schlemil sah ihn traurig und zugleich nachdenklich an.
 
„Weißt du“, sagte er, „manchmal überlege ich mir, wie es wohl wäre, in einem einfachen Haus zu wohnen, wo alles Alltägliche immer wiederkehrt, wo es ruhig ist und wo nicht so ein Trubel herrscht wie hier. Sieh dich doch um – jeden Abend andere Menschen, viel Musik und Glanz, aber nie hat man Zeit, allein zu sein und sich ein bisschen Ruhe zu gönnen.“

Benfiori sah ein, dass das seinen Freund sehr beschäftigte, auch wenn er selbst es eigentlich völlig in Ordnung fand, dass im Zirkus ständig etwas Neues passierte. Nun aber überlegte er, wie er Schlemil helfen konnte.

 
Am nächsten Abend, während der Vorstellung, glaubte Schlemil seinen Augen nicht zu trauen. In der ersten Reihe saß im Publikum ein Mann, der ganz genauso aussah wie er selber, nur dass er anders gekleidet war. Dieser Mann trug natürlich kein Clownskostüm, sondern einen gewöhnlichen braunen Anzug, Schuhe, die ihm nicht zu groß waren, und einen einfachen Rollkragenpullover. Als Schlemil diesen Mann sah, kam ihm eine Idee. Er bat ihn, nach der Vorstellung zu ihm in den Zirkuswagen zu kommen.

 
Der Mann ging zu Schlemil und kam aus dem Staunen nicht heraus. Schon immer hatte er sich gewünscht, einmal im Zirkus hinter die Kulissen schauen zu können, und nun war es endlich soweit. Umso mehr freute er sich über den Vorschlag, den Schlemil ihm machte:

 
„Wie wäre es, wenn wir die Rollen tauschten? Ich bringe dir alles bei, was du können musst, um an meiner Stelle in der Manege zu stehen, und du lässt mich dafür in deinem Haus wohnen und deine Arbeit machen!“

 
Der Mann war sofort einverstanden. Er hieß Oskar, wohnte in einem kleinen Dorf und hatte einen Bauernhof. Er lebte davon, dass er seine Tiere versorgte und die Milch und die Eier verkaufte. Im Sommer erntete er das Obst von den Bäumen und trug es auf den Markt. Schlemil war mit den Zirkustieren aufgewachsen, also würde er sich auch um die Tiere auf dem Hof kümmern können, und Oskar hatte immer davon geträumt, etwas Aufregendes zu erleben. Schlemils Vorschlag kam ihm vor wie der Hauptgewinn in einer Lotterie.

 
Also machten sie sich an die Arbeit. Schlemil zeigte Oskar alles, was dieser brauchte, um sich bei der Vorstellung nicht zu blamieren, und bald darauf zog Schlemil auf den Bauernhof.

Beide waren glücklich. Schlemil hatte endlich Zeit für sich: Er konnte spazieren gehen, lesen und sich um die Tiere kümmern und musste mit niemandem reden und nicht jeden Abend die laute Zirkusmusik hören. Oskar sah etwas von der weiten Welt, schnupperte Zirkusluft und wurde nach und nach ein ganz passabler Ersatz für Schlemil. Jeder lebte das Leben des anderen und war glücklich und zufrieden.

 
Eines Tages aber begann Oskar zu überlegen, wie es wohl seinen Tieren auf dem Bauernhof gehen mochte, und Schlemil mochte es sich zwar noch nicht eingestehen, aber langsam bekam er Sehnsucht nach Benfiori und seinen Freunden im Zirkus. Es ließ sich nicht leugnen: Obwohl sie immer davon geträumt hatten, etwas anderes auszuprobieren, hatten nun beide Heimweh! Da traf es sich gut, dass der Zirkus wieder in das Dorf kam, in dem sich Oskars Bauernhof befand.

 
Kaum hatte sich die Nachricht herumgesprochen, machte Schlemil sich auf den Weg zum Festplatz, wo das Zirkuszelt aufgebaut wurde. Er war gerade die Hälfte des Weges gegangen, da kam ihm jemand entgegen: Oskar! Sie umarmten sich zur Begrüßung, und Schlemil sagte etwas kleinlaut:

 
„Weißt du was, auf deinem Bauernhof gefällt es mir. Auch deinen Tieren geht es gut. Aber wenn man so am Küchentisch sitzt und ganz allein Abendbrot isst, dann ist es schon etwas einsam. Niemand kommt an den Tisch und setzt sich zu einem, und reden kann man nur mit den Tieren, und die antworten nicht.“

 
Oskar seufzte: „Ach ja... Und nun gefällt dir das nicht mehr? Glaub mir, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als einmal wieder dem Zirkustrubel zu entkommen! So schön es dort auch ist, aber immer wieder kommt jemand in den Wagen, nie ist man für sich, und ständig hört man von irgendwoher Musik!“
 
„Ach ja...“, seufzte nun Schlemil.

Als Oskar und Schlemil merkten, dass jeder von beiden sich nach seinem früheren Zuhause sehnte, beschlossen sie, alles wieder so werden zu lassen, wie es vorher gewesen war. Jeder von ihnen wusste nun, was er an seiner angestammten Umgebung hatte. Vielleicht hätten sie es nie herausgefunden, wenn sie die Rollen nicht getauscht hätten. Aber nun waren sie glücklich, nach Hause zurückkehren zu können.

Und immer wenn der Zirkus in das Dorf kam, ging Schlemil Oskar und die Tiere auf dem Bauernhof besuchen. Abends zog Oskar dann noch einmal das bunte Kostüm an, und sie standen zusammen in der Manege. Oskar hatte nichts von dem vergessen, was er in seiner Zeit beim Zirkus gelernt hatte, und das Publikum freute sich, dass nun gleich zwei Clowns auftraten, und der doppelte Clown wurde zur großen Attraktion in dem kleinen Zirkus.

 
 
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