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Geschichtengeschenke
Die Reise des Wassermanns


Eigentlich ist dies nicht die Geschichte von Jan, sondern von seinem Freund. Jan lebte in Südböhmen, in der Gegend, wo es viele Seen und Teiche und auch einige Flüsse gibt. Jan ging jeden Tag nach der Schule zu einem Teich, der sich gleich hinter seinem Haus befand. Der Teich war an einem Bachlauf im Wald angelegt worden, weil man darin Forellen züchten wollte. Doch irgendwann hatte sich auch ein anderer Bewohner eingestellt, mit dem Jan nur zu gern seine Zeit verbrachte. Es war ein Wassermann. Der Wassermann war sehr nett und gesprächig, aber auch sehr einsam. Mit wem hätte er sich auch unterhalten sollen, wo doch in seinem Teich nur stumme Fische und ein paar quakende Frösche lebten?!

Deshalb ging Jan immer wieder zu ihm und erzählte ihm, was er erlebt hatte. Der Wassermann hörte sich alles geduldig an und wünschte sich insgeheim, auch einmal etwas Aufregendes zu erleben, doch dazu würde er es, umgeben von schweigsamen Fischen, wohl nie bringen.

Eines Tages aber kam Jan nach der Schule aufgeregt angelaufen und schwenkte etwas hoch über seinem Kopf.
„Schau doch bloß mal, was ich habe!“, stieß er atemlos hervor und hielt dem Wassermann den Gegenstand entgegen. Dieser konnte zuerst gar nicht genau erkennen, worum es sich handelte, doch als Jan näher gekommen war, sah er, dass es eine Flasche war. Der Wassermann war enttäuscht.
„Was ist denn daran schon Besonderes? Das ist doch nur eine ganz gewöhnliche Flasche! Hast du sie auf dem Weg hierher gefunden?“
„Aber nein! Ein Kapitän hat sie mir geschenkt. Er fährt jahraus-jahrein zwischen unseren Flüssen und dem Meer hin und her, und dabei angelt er auch immer wieder. Unterwegs ist ihm diese Flasche ins Netz gegangen.“
Bei dem Wort „Netz“ zuckte der Wassermann instinktiv zusammen, doch Jan ließ sich nicht beirren.
„Sieh doch mal genau hin“, forderte er seinen Freund auf. „Das ist keine gewöhnliche Flasche. Das ist eine Flaschenpost!“
In diesem Moment sah der Wassermann es auch. In der Flasche steckte ein Blatt Papier.
„Wo hast du die denn her?“, fragte er verwundert. „Und warum bringst du sie zu mir? Du weißt doch, dass ich nicht lesen kann! Willst du sie mir vielleicht vorlesen?“
„O nein“, erwiderte Jan. „Das muss ich gar nicht. Sieh dir das Blatt doch nur einmal an!“

Der Wassermann tat, wie Jan ihn geheißen hatte. Als er das Blatt auseinandergerollt hatte, begriff er auch, warum Jan so aus dem Häuschen war, und vor allem, was er als Wassermann damit anfangen sollte:

Die Flaschenpost enthielt ein Bild von einer Meerjungfrau, die – mit den Augen eines Wassermanns betrachtet – die schönste Nixe war, die er je gesehen hatte. Sie hatte lange blaugrüne Haare, schillernde Schuppen an ihrem Schwanz, lange grüne Wimpern und große Augen, deren Farbe ebenfalls eine Mischung aus Grün und Blau war. Der Wassermann war völlig versunken in diesen Anblick.
„Ist sie nicht wunderschön?“, fragte er seufzend. Das musste Jan neidlos zugeben. Ja, schön war die Nixe wirklich.
„Es ist nett von dir, dass du mir das Bild mitgebracht hast. Ich würde diese Nixe zu gern kennenlernen“, sagte der Wassermann verträumt, doch dann fügte er traurig seufzend hinzu: „Aber das wird wohl nicht gehen. Wir werden uns wohl niemals begegnen können!“
Jan war erstaunt.
„Warum denn nicht? Wenn sie dir so gut gefällt, wird sich doch ein Weg finden lassen!“
Der Wassermann schüttelte traurig den Kopf. „Hast du schon mal gehört, dass so eine Nixe in einem Fluss oder einem See lebt?“
Das hatte Jan tatsächlich nicht.
„Siehst du“, sagte der Wassermann. „Sie heißen ja nicht von ungefähr Meerjungfrauen. Diese Nixen leben im Salzwasser und Wassermänner im Süßwasser. Keiner von uns kann dort leben, wo der andere zu Hause ist!“ Bei diesen Worten brach er in Tränen aus.
Nun tat Jan sein Freund leid.
„Nun wein doch nicht“, sagte er. „Vielleicht fällt uns ja doch noch etwas ein! Weißt du was, ich gehe jetzt nach Hause und denke nach. Wenn ich morgen wiederkomme, sieht die Welt vielleicht schon anders aus!“
Der Wassermann nickte und ließ ihn gehen, doch er hatte keine Hoffnung, dass Jan eine Lösung für sein Problem finden würde.
Am nächsten Tag kam Jan gleich nach der Schule freudestrahlend angelaufen, weil er seinem Freund unbedingt etwas erzählen wollte:
„Weißt du, was ich herausgefunden habe?“, rief er schon von Weitem.
Der Wassermann wusste es natürlich nicht. Aber es interessierte ihn brennend, sofern das bei einem Wassermann möglich ist.
„Spann mich doch nicht länger auf die Folter“, bat er.
„Es gibt Fische, die im Süßwasser und im Salzwasser leben“, berichtete Jan stolz. „Lachse zum Beispiel. Vielleicht ist es ja bei Nixen genauso!“
Der Wassermann blickte angewidert drein.
„Eine Nixe ist doch kein Lachs. Nein, nein, eine Meerjungfrau ist ein richtiges Meereslebewesen. Vom Süßwasser ins Salzwasser schwimmen und umgekehrt – nein, so was macht sie bestimmt nicht!“
Nach und nach wurde Jan ratlos, aber so leicht wollte er nicht aufgeben. Er verabschiedete sich und versprach, sich noch etwas anderes zu überlegen. Am nächsten Tag kam er wieder:
„Wassermann, du glaubst nicht, was ich in Erfahrung gebracht habe! In der Ostsee gibt es Abschnitte, in denen Meereslebewesen und Süßwassertiere leben. Wäre das nicht etwas für dich und deine Meerjungfrau?“
Ja, dagegen hatte der Wassermann nichts einzuwenden. Doch wie sollte die Nixe davon erfahren, dass sie dorthin kommen sollte? Auch dafür hatte Jan eine Idee:
„Hast du durch eine Flaschenpost von ihr erfahren, soll auch sie eine Flaschenpost bekommen! Wir werfen die Flaschenpost einfach hier in deinen Bach, dann findet sie ganz von allein ihren Weg.“

Gesagt – getan. Jan und der Wassermann zeichneten eine Karte, auf der genau eingetragen war, wo der Wassermann sich mit der Nixe treffen wollte, und Jan malte noch ein besonders schönes Bild vom Wassermann und legte es mit in die Flasche hinein.

Der Wassermann aber verabschiedete sich von seinem Freund und machte sich auf den Weg. Er würde lange schwimmen müssen und wusste noch nicht einmal, ob er die Nixe wirklich finden würde und ob sie bereit wäre, mit ihm in der Ostsee zu leben. Dennoch wollte er diese Chance nicht verpassen, denn er war überzeugt, dass sie es wert war, dass er alle Strapazen auf sich nahm. Und so schwamm er durch Bäche und Flüsse, vorbei an Burgen und Schlössern, von einem Land ins andere, und machte sich immer wieder mit der Hoffnung Mut, dass er vielleicht bald seine Nixe treffen würde.

Als er endlich in der Ostsee angekommen war, wurden seine Mühen belohnt: Die Nixe hatte seine Flaschenpost erhalten und wartete nun schon auf ihn, weil auch sie mit ihm gemeinsam leben wollte.

Jan aber erfuhr wieder durch eine Flaschenpost, dass es seinem Freund in der neuen Heimat gut ging und dass er mit der Nixe sein Glück gefunden hatte. Nun würde er nie wieder einsam sein.

Carola Jürchott
 
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