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Leseproben
[...] Er wusste nicht, wie lange er dort gesessen hatte, doch als er sich wieder umsah, war Maria auf einmal verschwunden. Benny bekam einen fürchterlichen Schreck, dachte aber dann daran, was Maria für den Fall gesagt hatte, dass jemand die Gruppe aus den Augen verlieren würde:

„Wir treffen uns um fünf Uhr am Fuße des Turmes!“

Um fünf Uhr? Benny erinnerte sich, dass die Turmuhr schon mehrmals geschlagen hatte. Er musste also nur zählen, wann sie fünfmal schlug, und dann würde er Maria wiederfinden. Durch diese Erkenntnis beruhigt, atmete er erst einmal tief durch, um dann gleich wieder aufzuspringen und weiter die Tauben zu jagen. Er hopste hierhin und dorthin, und die Tauben taten ihm den Gefallen, jedes Mal aufzuflattern. Bis auf eine. Diese Taube blieb einfach sitzen und tat, als würde sie Bennys Hüpfen überhaupt nicht bemerken.

„So ein Faultier!“, dachte er.
„Erlaube mal, was ist denn das für ein Benehmen?!“, erwiderte daraufhin die Taube.
Auweia, da hatte Benny wohl laut gedacht! Das war ihm so peinlich, dass er zunächst völlig vergaß, sich darüber zu wundern, dass die Taube sprechen konnte. Doch die Taube hatte sich bei Weitem noch nicht alles von der Seele geredet:
„Fällt dir nichts Besseres ein, als uns Tauben zu jagen? Guck dir lieber an, was es hier alles zu sehen gibt! Da bist du schon einmal hier und rennst nur uns Tauben hinterher! So etwas aber auch!“

Nun war Benny vor Staunen wirklich sprachlos. Als er seine Fassung wiedergefunden hatte, sah er die Taube schuldbewusst an.
„Du hast recht“, sagte er. „Bestimmt gibt es hier eine Menge zu sehen!“
„Na, komm schon“, erwiderte die Taube versöhnlich. „Ich zeig dir alles, wenn du magst.“
Und ob Benny das wollte! Eine Frage musste er nun aber doch noch stellen:
„Warum kannst du eigentlich sprechen?“
„Ach weißt du“, sagte die Taube, „ich lebe schon ziemlich lange in dieser Stadt. Und wenn jeden Tag so viele Touristen kommen – da schnappt man eben hier und da was auf. Ich heiße übrigens Pelagia.“
„Was für ein schöner Name!“, meinte Benny.
„Danke“, sagte Pelagia. „In deiner Sprache heißt das übrigens: die, die am Meer lebt.“
„Das passt ja prima“, fand Benny.
„Na ja, fast“, wandte Pelagia ein. „Venedig liegt nämlich in einer Lagune.“

Dieses Wort kannte Benny nicht.
„Was ist denn das?“, fragte er.
„Das ist flaches Wasser, das durch Sand oder Korallen vom eigentlichen Meer getrennt ist.“
Benny sah die Taube ungläubig an.
„Du willst mir doch nicht erzählen, dass die Stadt im Wasser steht, oder?“
„Natürlich“, sagte Pelagia, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, und mit etwas Stolz in der Stimme fügte sie hinzu: „Früher waren Segelschiffe die schnellsten und billigsten Verkehrsmittel. Aber am ganzen Mittelmeer gab es keine Stadt außer unserer, in der man mit dem Boot buchstäblich bis vor die Haustür fahren konnte. Überhaupt war unsere Stadt etwas Besonderes. Sie war reich und berühmt, und vieles wird über sie berichtet.“

Pelagia spürte, dass Benny diese Auskunft nicht ausreichte und dass er darauf brannte, noch mehr zu erfahren. Deshalb fragte sie ihn:
„Was willst du hören: die Geschichte oder die Legende?“
Benny stutzte. Bisher hatte er alles geglaubt, was die Taube ihm erzählt hatte, doch jetzt war er sich sicher: Pelagia wollte ihn veralbern. Aber nicht mit ihm! Da musste sie sich schon etwas Besseres einfallen lassen! Er war fest davon überzeugt, Pelagia ertappt zu haben:
„So legst du mich nicht herein! Geschichte oder Legende – das ist doch dasselbe!“

Nun war es an Pelagia, sich zu wundern. Sie hatte gar nicht vorgehabt, sich über Benny lustig zu machen. Deshalb beeilte sie sich, das Missverständnis aufzuklären:
„Das stimmt nicht ganz. Sicher, wenn man einfach redet, wie einem der Schnabel gewachsen ist, kann schon manchmal der Eindruck entstehen, als wäre das ein und dasselbe. Streng genommen gibt es aber doch einen entscheidenden Unterschied.“
„Verrat ihn mir!“, bat Benny.
„Pass auf: Geschichte gibt es nur eine. Das ist das, wovon wir wissen, dass es sich in der Vergangenheit wirklich zugetragen hat. Man kann es in den Geschichtsbüchern nachlesen. Legenden aber entstehen durch die Phantasie der Menschen. Vieles davon kann sich nicht so zugetragen haben, wie man es sich erzählt, und doch wird es über die Jahrhunderte immer weitergegeben.“

Das klang zwar einleuchtend, aber so schnell wollte sich Benny noch nicht geschlagen geben:
„Wenn die Geschichte das ist, was wirklich passiert ist, warum sagen meine Eltern dann immer zu mir: ‚Erzähl keine Geschichten!’, wenn ich mir etwas ausgedacht habe?“

Nun sah auch Pelagia, dass das vielleicht doch nicht so einfach zu erklären war. Sie gab dennoch nicht auf:
„Das ist der Unterschied zwischen ‚Geschichte’ und ‚Geschichten’. Die Geschichte gibt es nur einmal. Geschichten aber kann es viele geben. Und ob du es glaubst oder nicht: Die meisten alten Städte haben von jedem etwas. Sie sind voller Geschichte und Geschichten!“
Diese Erklärung fand Benny nun doch ziemlich verwirrend. Deshalb sagte er vorsichtshalber:
„Dann erzähl mir einfach alles, was du weißt!“
„Womit fangen wir an?“, fragte Pelagia zurück.
„Mit der Legende!“

Nach all dem Hin und Her um Geschichte und Geschichten dachte Benny, damit könnte er am wenigsten verkehrt machen, und Pelagia ließ sich nicht lange bitten:
„Also gut. Die Legende besagt, dass sich vor mehr als 1500 Jahren, genau am 25. März 421, das Wasser der Lagune teilte und aus dem Meer die ganze Stadt Venedig aufstieg – in all ihrer Pracht und Schönheit!“

Aha! Jetzt hatte Benny es verstanden. Dass diese Geschichte nicht stimmen konnte, war ihm von Anfang an klar.
„Dann sind also Legenden so etwas Ähnliches wie Märchen?“, fragte er, um sich noch einmal zu vergewissern.

Pelagia reichte ihm hoheitsvoll ihren rechten Flügel und schüttelte ihm die Hand.
„Gratuliere!“, sagte sie. „Du hast es begriffen! Legenden und Märchen sind zwar nicht dasselbe, aber sehr ähnlich sind sie sich schon.“
„Gut“, sagte Benny. „Nun weiß ich also, wie es nicht gewesen ist. Dann musst du mir aber noch erzählen, wie es wirklich war!“
„In Ordnung“, sagte Pelagia. „Aus der Geschichte wissen wir, dass an der Stelle, an der sich heute Venedig befindet, schon vor mindestens 2000 Jahren Menschen gelebt haben, vielleicht auch noch früher.“

Sie wollte gerade fortfahren und von den wichtigsten Begebenheiten in der Geschichte der Stadt erzählen, da stutzte sie plötzlich, als hätte sie sich eines Besseren besonnen.
„Weißt du“, meinte sie, „die Geschichte erzählt zu bekommen, ist eine Möglichkeit...“
„Und was ist die andere?“, fragte Benny gespannt.
„Sie zu erleben“, antwortete Pelagia, als sei das die natürlichste Sache der Welt. So ganz hatte Benny noch nicht verstanden, was die Taube meinte, und sie tat auch schon wieder sehr geheimnisvoll.
„Du meinst, in einem Museum?“, fragte er. Pelagia zögerte.
„Entweder das ...“, sagte sie, wobei sie die Worte besonders in die Länge zog.
„Oder?“, fragte Benny, schon ganz atemlos vor Aufregung.
„Oder man geht dorthin, wo sich die Geschichte zugetragen hat!“
„Wie geht denn das?“, fragte Benny.
„Ganz einfach“, sagte Pelagia. „Wir reisen ein bisschen in die Vergangenheit!“

Benny war außer sich vor Aufregung.
„Mit einer Zeitmaschine?“, wollte er wissen. Pelagia blinzelte verschmitzt.
„Zeitmaschinen sind etwas für die Träumer unter den Menschen“, erwiderte sie. „Aber wir Tauben haben auch unsere Tricks. Fass mich an und mach die Augen zu!“

Ganz geheuer war Benny die Angelegenheit nicht:
„Was, wenn ich nicht wieder zurück bin, bis die Turmuhr fünfmal schlägt?“, fragte er. „Dann muss ich vielleicht für immer in der Vergangenheit bleiben!“
„Papperlapapp!“, sagte Pelagia. „Auch wenn wir in die Vergangenheit reisen, geht die Zeit in der Gegenwart wie gewohnt weiter. Hab keine Angst, ich passe schon auf!“ [...]
 
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