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Reisen
 
Dezember 1987

Nachts an der Newa

„Ich liebe dich, Schöpfung Peters, deine
Gestrenge, einheitliche Pracht,
In dem granitenen Gesteine
Der Newa königliche Macht …“

Zum wievielten Male während dieser Reise gehen mir die Worte Alexander Puschkins aus seinem Poem „Der Eherne Reiter“ durch den Kopf? Ich weiß es nicht. Es zu zählen wäre wahrscheinlich auch sinnlos, denn hier, in Leningrad, werde ich auf Schritt und Tritt an die Zeilen meines Lieblingsdichters erinnert. Wie oft habe ich seit damals, als mir diese Verse das erste Mal begegneten, davon geträumt, das Denkmal, dem sie gewidmet sind, mit eigenen Augen zu sehen!

Ich stehe vor dem Denkmal für Peter den Großen und bin überwältigt. Es ist eine klare Novembernacht. Die Skulptur des Mannes, der die Stadt am Finnischen Meerbusen im Jahre 1703 gegründet hat, wird von allen Seiten her durch Scheinwerfer angestrahlt. Das Licht erhellt den Weg bis ans Ufer der Newa.

Noch eine halbe Stunde, bis die Brücken über den majestätischen Strom geöffnet werden, um den großen Schiffen die Durchfahrt zur Ostsee zu ermöglichen. Abgesehen von einigen Touristen, die wie wir ihre gemütlichen Hotelzimmer verlassen haben, um dieses Schauspiel wenigstens einmal gesehen zu haben, sind die Straßen der Stadt menschenleer. An diesem Abend spüre ich das erste Mal hautnah, dass Leningrad keine gewöhnliche Großstadt ist, sondern eine der größten Hafenstädte des Landes. Niemals vorher hätte ich mir vorstellen können, dass mich eine Stadt so in ihren Bann ziehen würde. Ich sehe vor mir das Denkmal und beginne zu verstehen, warum dieser Mann auch in unserer Zeit noch so von den Menschen verehrt wird:

„Rag, Peters Stadt, in hehrer Pracht,
Wie Russland stolz und unbezwungen!
Bezähm der Elemente Macht,
Der du dein Leben abgerungen …“

Ich laufe um die Statue herum und überlege, warum sie ausgerechnet hier und nicht zum Beispiel direkt vor dem Winterpalais aufgestellt wurde. Dabei folge ich mit meinen Blicken dem Arm Peters und sehe, dass er direkt auf die Newa, den Zugang zum Meer, zeigt.

In diesem Moment öffnen sich die Brücken, und das erste Schiff fährt an uns vorüber. Es ist das zweite Mal in dieser Nacht, dass ich überwältigt bin: von der Größe des Flusses und der Schönheit der Stadt, die, durch die Lichter der Schiffe erleuchtet, am anderen Newa-Ufer sichtbar wird. Wieder denke ich an Puschkin, und es scheint mir, als ob niemand diese Stimmung besser beschreiben könnte als er:

„Wenn klar vor meines Fensters Rampe
Das hehre Bild der Stadt ersteht
Und von der Admiralität
Mich grüßt der Nadel Goldgefunkel.“

Ich finde, dass diese Stadt nachts noch einen stärkeren Eindruck vermittelt als am Tage. Man spürt, dass hier große Ereignisse in der Menschheitsgeschichte stattgefunden haben. Kein Wunder, dass ich mir ein bisschen vorkomme wie in einem riesengroßen Museum unter freiem Himmel. Überall, wo man hinschaut: Architekturdenkmäler, Statuen … Das kann doch eigentlich nicht sein - so viel Schönheit auf einmal! Doch am anderen Newa-Ufer, ob nun auf der Seite der Wassiljew-Insel oder im Winterpalais, sehe ich Häuser, von denen jedes seine eigenen architektonischen Schönheiten und Besonderheiten aufweist, denen anzusehen ist, dass jedes von ihnen seine eigene Geschichte hat, dass sie ein Stück Geschichte mitgeschrieben haben. Wieder denke ich daran zurück, wie ich das erste Mal mit der Geschichte Leningrads Bekanntschaft geschlossen habe: vor mehreren Jahren, beim Durchblättern eines Reiseführers. Vieles hatte ich inzwischen von Bekannten gehört, die vielleicht selbst einmal da gestanden haben, wo ich jetzt stehe. Aber auch die besten Erzählungen können wohl nicht ausdrücken, was man empfindet beim Anblick des Flusses, der Stadt selbst. Ich habe mich oft gefragt, warum so viele Dichter, Maler, Musiker gerade hier ihr Leben verbracht haben. Jetzt glaube ich es zu verstehen: Von so einer Stadt muss eine Inspiration ausgehen! Da ist es nicht verwunderlich, dass hier solche Werke entstanden sind wie zum Beispiel „Der Eherne Reiter“. Wieder kommen wir Puschkins Worte in den Sinn:

„Und deine schmucken Eisengitter,
Und  deiner nachdenklichen Nacht
Durchsichtig-weißes Lichtgezitter,
Wenn ich im Zimmer, traumerwacht,
Schreib, lese, ohne Licht und Lampe …“

Ja, wie schön muss das alles erst im Sommer aussehen, während der Weißen Nächte! Ehrlich gesagt, in diesem Augenblick kann ich mir nicht vorstellen, dass es etwas noch Schöneres geben könnte, als in dieser Nacht durch Leningrad zu laufen.

Wieder sehe ich hinunter zur Newa und fange an, den Schiffen nachzuträumen: Wohin mögen sie fahren? Ob die Menschen dort, auf den Frachtern, sich später auch so an diese Stadt erinnern werden? Oder ist es für sie schon zur Gewohnheit geworden, in verschiedenen Häfen anzulegen, ohne auf die Schönheiten des jeweiligen Ortes zu achten? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich: Wenn ich auch sonst Fernweh verspüre, wenn ich großen Schiffen hinterhersehe, von hier möchte ich am liebsten nicht wieder fort! Und doch – es muss sein!

Es ist unser vorletzter Abend in Leningrad. Eigentlich unser letzter, denn morgen heißt es: Koffer packen. Leider ist jetzt auch die Zeit gekommen, wo wir ins Hotel zurück müssen. Aber eines lassen wir uns nicht entgehen: uns den Palastplatz bei Nacht anzusehen. Schade, dass diese Reise schon so bald zu Ende ist!

Doch es gibt vieles, das bleibt: die Erinnerungen und die Erkenntnis, dass ich begonnen habe, die Stadt an der Newa zu lieben:

„Ich liebe dich, Schöpfung Peters!“

(Fotos: pixabay)

 
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