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Leseproben
Ein Bild wird lebendig
Es war noch früh am Morgen, und auf dem Alten Arbat war gerade erst das Licht in den runden Laternen verloschen. Constantin schlenderte die Straße entlang, denn er wollte die Stadt unbedingt zuerst auf eigene Faust erkunden. Ganz leise hatte er sich aus dem Zimmer geschlichen, und nur Max, der langhaarige graugetigerte Kater, hatte ihm verwundert zugesehen, als er am Küchentisch den Zettel für seine Eltern geschrieben hatte:

„Macht Euch keine Sorgen! Ich gehe ein wenig spazieren. Bis zum Mittag bin ich wieder da!“

Max hatte zwar missbilligend gemauzt, aber Constantin wollte sich dieses Abenteuer von niemandem ausreden lassen – schon gar nicht von einer Katze!

Deshalb war er auf Strümpfen bis in den Hausflur gegangen und hatte erst dort seine Schuhe angezogen, um niemanden zu wecken.

Bloß gut, dass er sich am Tag zuvor, als die Freunde seiner Eltern sie vom Flughafen abgeholt hatten, gemerkt hatte, wo es zu den großen Häusern ging, die er so spannend fand. Nun musste er sich nur noch seinen Weg durch die alten Gassen bahnen, und dann würde er sicher bald auf der riesigen Straße stehen.
 
Constantin war aus dem Haus getreten, an einer kleinen Kirche und einem Haus mit vielen Gedenktafeln vorbeigegangen, bis er sich schließlich in einer Fußgängerzone wiederfand, die ihm so gut gefiel, dass er seine Pläne noch einmal änderte. Die große Straße konnte er sich später immer noch ansehen. Da die hohen Häuser schon hinter den anderen aufragten, konnte es bis dorthin nicht mehr weit sein.
 
Was aber war das für eine Fußgängerzone, die ein wenig wirkte, als käme sie noch aus einer ganz anderen Zeit? Die bunten Häuser mit den verzierten Fassaden wollten so gar nicht zu den modernen Hochhäusern dahinter passen. Constantin schaute sich um und entdeckte ein blau-weißes Straßenschild. Er las, was dort geschrieben stand: „Arbat“.
 
‚Das ist ja ein seltsamer Name’, dachte er bei sich und beschloss, der Sache später noch auf den Grund zu gehen. Fürs Erste genoss er die frische Kühle dieses Sommermorgens, denn dass es hier auch recht heiß werden konnte, hatte er tags zuvor bereits gemerkt. Noch waren kaum Menschen auf den Straßen zu sehen, und nur die Maler, die auf dem Arbat ihre Bilder verkauften, hatten schon begonnen, die Stände aufzubauen. Während er sich nach allen Seiten umsah, erblickte Constantin plötzlich unter vielen anderen ein Bild, dessen Motiv ihm bekannt vorkam. Es war rot und zeigte einen Mann, den Constantin auch von einem Denkmal in seiner Heimatstadt kannte: Georg, den Drachentöter. Auch der rote Hintergrund war ihm vertraut, und plötzlich fiel es ihm wieder ein: Das war das Moskauer Stadtwappen!
 
Doch was war denn das? Täuschte er sich, oder hatte ihm der Heilige Georg von dem Bild herab gerade zugezwinkert?
 
‚Sicher liegt es daran, dass mir die Zeitverschiebung noch zu schaffen macht’, dachte Constantin bei sich, denn er war sich sicher, dass das nur ein Traum sein konnte. Dennoch konnte er es sich nicht verkneifen, zu dem Heiligen auf dem Bild zu sagen:
 
„Dich kenne ich doch!“
 
Wie staunte der Junge aber, als auf einmal eine Gegenfrage ertönte:
 
„Schau an, woher denn?“
 
Wer immer das gefragt haben mochte, hatte eine Antwort verdient, fand Constantin, und daher sagte er:
 
„Meine Eltern waren schon oft hier, einmal auch zu einem großen Stadtjubiläum. Damals haben sie CDs mit Liedern über Moskau mitgebracht, die wir zu Hause öfter hören. In einem Lied gibt es eine Zeile ‚Moskau, dein Wappen ist der Heilige Georg.‘“
 
„Stimmt, das bin ich, dein ergebenster Diener“, sagte die unbekannte Stimme, und nun sah Constantin ganz deutlich, dass Georg auf dem Wappen nicht nur zwinkern, sondern sogar die Lippen bewegen konnte. Das war ja vielleicht eine Überraschung!
 
Seine Verwunderung stieg jedoch ins Unermessliche, als Georg ihn bat:
 
„Wenn du mich sowieso kennst, könntest du mich doch hier herunterholen, meinst du nicht?“
 
Constantin sah ihn mit großen Augen und offenem Mund an. Als er sich wieder etwas gefasst hatte, fragte er:
 
„Geht das denn?“
 
„Natürlich“, antwortete Georg, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. „Du musst es dir nur ganz fest wünschen. Glaub mir, wir könnten eine Menge Spaß zusammen haben.“
 
Davon war Constantin überzeugt, doch er zögerte, weil seine Eltern ihm eigentlich verboten hatten, sich mit Fremden einzulassen. Allerdings lag hier der Fall ein wenig anders – schließlich war Georg ein Heiliger, und als dieser ihm vorschlug: „Ich könnte dir zum Beispiel die Stadt zeigen“, gab es für den Jungen kein Halten mehr.
 
Er wünschte es sich so sehr, dass binnen kürzester Zeit Georg mitsamt seinem Pferd in voller Schönheit vor ihm stand. Der Platz des Heiligen auf dem Bild war leer, doch der Maler, dem der Stand gehörte, hatte nichts von all dem bemerkt, weil er gerade dabei war, eine Dame zu porträtieren, die sich spontan überlegt hatte, wie schön es wäre, ein Bild von sich selbst über dem Wohnzimmersofa zu haben.
 
„Na, das hat doch schon gut geklappt“, sagte Georg sichtlich zufrieden. „Jetzt will ich meinen Teil unserer Abmachung auch gleich einlösen.“
 
Er wies vor sich auf den Rücken seines Pferdes:
 
„Komm, steig auf. Moskau ist groß, daher sollten wir es nicht zu Fuß erkunden.“
 
Constantin sah ihn zweifelnd an.
 
„Werden sich die Leute nicht wundern, wenn wir hier inmitten all der Autos durch die Straßen reiten?“, fragte er.
 
Doch Georg beruhigte ihn:
 
„Keine Angst. Die meisten von ihnen sind so mit ihren eignen Dingen beschäftigt, dass sie uns gar nicht bemerken werden. Und selbst wenn wir ihnen auffallen, werden sie nicht glauben, was sie sehen. Also lass uns einfach unsere Kreise ziehen.“
 
Wieder schaute Constantin verständnislos drein. Der letzte Satz hatte ihm zu denken gegeben.
 
„Warum denn ‚Kreise’?“, erkundigte er sich. „Die Straßen hier sind doch ganz gerade.“
 
Georg lächelte.
 
„Ich sehe schon, es wird Zeit, dass ich dir die Stadt zeige. Ob du es glaubst oder nicht, Moskau ist tatsächlich kreisförmig aufgebaut. Das liegt daran, dass sich die Stadt im Laufe ihrer Entwicklung immer von einem Ring zum nächsten ausgedehnt hat. Angefangen hat alles mit dem Kreml, der heute noch das Herzstück der Stadt ist. Später reichte das Stadtzentrum bis zum Gartenring, und heute wird Moskau durch den Autobahnring begrenzt.“
 
„Das ist ja spannend“, fand Constantin. „So etwas habe ich noch nie gehört. Wann hat das alles denn eigentlich angefangen?“
 
Georg klopfte wieder auf den Rücken seines Pferdes:
 
„Das kann dir jemand anderes noch viel besser erzählen als ich. Ich bin erst später in das Wappen und damit in die Stadt gekommen. Er aber war von Beginn an dabei. Nun sitz schon auf, damit wir ihm einen Besuch abstatten können.“
 
Constantin hatte längst beschlossen, sich von allem überraschen zu lassen, was an diesem Tag noch auf ihn zukam, und so stieg er ohne weitere Einwände zu Georg auf das Pferd.
 
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