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Leseproben
Ritter Prahlhans
Gemeinsam schritten sie ehrfurchtsvoll über die alte Brücke und blieben an jeder der dreißig Skulpturen stehen. Eine Figur stand etwas abseits auf einem Pfosten. Benny hielt an, um sie sich genauer anzusehen, wollte aber auch Karel nicht aus den Augen verlieren.

„Warte doch bitte einen Moment“, rief er dem Kater hinterher, und als er sich wieder umdrehte, traute er seinen Augen nicht.

Der Ritter, den er gerade noch als Statue bewundern wollte, stand leibhaftig vor ihm und deutete eine Verbeugung an:

„Gestatten, mein Name ist Bruncvík“, sagte er, „und, ohne mich dessen brüsten zu wollen, kann ich sagen, dass dieses Land mir sein Wappentier zu verdanken hat.“

Benny musste sich sehr zusammennehmen, um dem Ritter zuzuhören und nicht weiter darüber zu grübeln, wie dieser lebendig auf die Brücke gekommen war, doch dann fragte er:
 
„Ah, dann ist das also deine Hand, die in dem Tor auf dem Wappen das Schwert hält?“
 
„Nein“, antwortete Bruncvík. „Was du meinst, ist das Prager Stadtwappen. Das Wappentier unseres Landes jedoch ist ein silberner Löwe.“
 
„Ein silberner Löwe?“ Benny wunderte sich. „Sind Löwen denn nicht immer hellbraun?“
 
„In der Natur schon, aber auf Wappen darf man auch andere Farben verwenden. Willst du wissen, wie es zu dem Löwen gekommen ist?“
 
Ja, das wollte Benny unbedingt, und inzwischen hatte sich auch Karel wieder eingefunden und sah den Ritter unverwandt an. Bruncvík fuhr ungerührt fort:
 
„Meinem Vater, Fürst Stilfried, hat es dieses Land zu verdanken, dass ein Adlerweibchen in seinem Wappen die Stelle eines einfachen Eisenkessels eingenommen hat. Das genügte mir aber auch noch nicht, denn mir stand der Sinn nach einem edleren Tier.“
 
„Hört, hört“, brummte Karel in seinen Bart, doch der Ritter beachtete ihn nicht und erzählte weiter:
 
„So zog ich in die Welt hinaus, durchstreifte viele Länder und segelte übers Meer, bis ich schließlich an einem Felsen einen siebenköpfigen Drachen erblickte, der mit einem Löwen kämpfte. Unerschrocken und mit dem mir eigenen Sinn für Gerechtigkeit, der gut dazu passt, dass ich ein Herz für die Schwachen habe, schlug ich mich auf die Seite des Löwen.“
 
„Was hat denn das miteinander zu tun?“, erkundigte sich Benny. „Ein Löwe und ein Drache – in der Geschichte kommt doch gar kein Schwacher vor!“
 
„Oh, doch!“ Wieder warf sich Bruncvík in die Brust: „Der Löwe war durch den Kampf bereits an die Grenzen seiner Kraft gestoßen, und nun war ich es, der ihm zu Hilfe eilte und an seiner Statt den Drachen tötete. Aus Dankbarkeit hat er mich danach auf all meinen Wegen begleitet.“
 
Wieder schnaubte Karel verächtlich:
 
„Ja, natürlich“, murmelte er. „Als ob eine Raubkatze ein Schoßhündchen wäre…“
 
„Später erwarb ich auch noch ein Wunderschwert, mit dem ich alle Feinde besiegt habe. Es wurde hier in die Brücke eingemauert, damit es dem Retter der Stadt sofort zur Hand ist, sollte Prag einmal in großer Not sein. Das Wahrzeichen des hiesigen Königtums aber wurde durch mich der silberne Löwe auf rotem Grund.“
 
Mit diesen Worten deutete Bruncvík eine weitere Verbeugung an, und als Benny sich von ihm verabschieden wollte, stand der Ritter bereits wieder unbeweglich auf seinem Steinpfeiler.
 
„So ein Angeber!“, machte Karel gleich darauf seinem Unmut Luft. „Wenn einer schon sagt, er will sich nicht brüsten, kannst du doch darauf wetten, dass er gleich zu Lobeshymnen auf sich selbst ansetzt!“
 
„Wenn du ihn nicht leiden kannst, warum hast du ihn dann zum Leben erweckt?“, fragte Benny erstaunt.
 
„Ich?“ Karel sah ihn entsetzt an. „Wie kommst du denn auf die Idee? Der ist von ganz allein gekommen, weil er froh war, endlich wieder einmal jemandem seine Geschichte erzählen zu können!“
 
„Ist die Geschichte denn wahr?“ Nun wollte es der Junge wirklich ganz genau wissen.
 
„Wahr oder nicht wahr – wer weiß das schon?“, antwortete Karel leichthin. „Aber mal ehrlich: Wie viele wahre Geschichten über Kämpfe mit Drachen hast du schon gehört? Wenn du mich fragst – eine Sage wie alle anderen auch!“
 Stolz hob der Kater sein Haupt und schritt majestätisch ans andere Ende der Brücke.
 
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