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Anthologien
Die Kissen des Emirs
Vor langer, langer Zeit kam im Morgenland ein neuer Emir an die Macht. Er hieß Scheich Raschid, doch um die Regierungsgeschäfte führen zu dürfen, brauchte er die Zustimmung des Kalifen, der noch weitaus mächtiger war als der Emir. Als Scheich Raschid zum Kalifen kam, um diesen darum zu bitten, antwortete dieser:

„Meine Zustimmung bekommst du erst, wenn ich sicher sein kann, dass du weise genug bist, um ein Volk zu regieren.“

Scheich Raschid stutzte.      
 
„Wie willst du das herausfinden?“, fragte er.
 
„Ich werde dich prüfen“, erwiderte der Kalif. „Geh jetzt zurück in deinen Palast und warte ab, was passieren wird.“

Der Emir tat, wie ihm geheißen, obwohl er keine rechte Vorstellung davon hatte, welcher Art die Aufgabe sein konnte, die ihn erwartete. Ins Unermessliche aber stieg seine Verwunderung, als er bei seiner Heimkehr alles unverändert vorfand und weder ein Rätsel noch eine Aufforderung entdecken konnte, etwas Bestimmtes zu tun.

Auch am nächsten Morgen war alles wie vorher, und Scheich Raschid hegte schon die Befürchtung, der Kalif könnte ihn vergessen haben. Immer wieder lief er im Palastgarten auf und ab, doch nirgends fand sich eine Lösung für sein Problem. Schließlich wusste er sich nicht anders zu helfen als Briefe an die anderen Emire im Reich des Kalifen zu schreiben und sie zu fragen, was für Aufgaben der Kalif ihnen gestellt hatte, bevor sie die Macht übernehmen durften. Die Antworten auf dieses Schreiben waren jedoch ebenfalls höchst unbefriedigend: Die Prüfungen, denen der Kalif die anderen Emire unterzogen hatte, waren so unterschiedlich, dass Scheich Raschid sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen konnte. Er war also genauso ratlos wie vorher.

Um sich abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen, gab Scheich Raschid eines Abends in seinem Palast ein Fest. Von nah und fern kamen Fakire, Feuerschlucker und Tänzer, um ihre Künste zu zeigen und sich dem neuen Emir vorzustellen. Der Zufall wollte es, dass einige von ihnen bereits von den Sorgen des Emirs gehört hatten. So trat zu später Stunde eine der Tänzerinnen auf Scheich Raschid zu und verneigte sich:

„Edler Scheich, ich weiß um Eure Fragen. Gestattet mir, dass ich Euch einen Rat gebe.“
 
Der Emir sah sie verwundert an und fragte:
 
„Wer bist du, und warum meinst du, mir helfen zu können?“
 
Die Tänzerin erwiderte:
 
„Mein Name ist Samira, und ich entstamme einem alten Geschlecht. Meine Vorfahren waren weise, und ich habe ihre Gabe des Hellsehens geerbt.“

Scheich Raschid konnte sich zwar nicht vorstellen, dass ausgerechnet eine Tänzerin die Lösung für sein Problem kennen sollte, doch da nichts zu verlieren hatte, ließ er Samira gewähren und hörte sie an.

„Edler Scheich“, begann sie wieder. „Die Antwort auf Eure Fragen findet Ihr in Eurem eigenen Palast. Es gibt hier freie Plätze, die darauf warten, so besetzt zu werden, dass sie Eurem Staate zur Ehre gereichen. Begebt Euch im Morgengrauen auf die Suche und sorgt dafür, dass die richtigen Menschen diese Plätze einnehmen. Bedenkt genau, welche Wünsche Ihr für Eure Untertanen habt.“

Mit diesen Worten verschwand Samira wieder in der Dunkelheit und ließ den Emir mit seinen Gedanken zurück.
 
Am nächsten Morgen begann Scheich Raschid in aller Frühe zu suchen, was Samira ihm beschrieben hatte. Er wusste zwar nicht, was er genau zu finden hoffte, doch bei seiner Suche gelangte er auf einmal in einen sehr entlegenen Teil des Palastes. Er war schon seit langer Zeit nicht mehr an diesem Ort gewesen, und vielleicht war ihm deshalb nie aufgefallen, dass es hier eine Nische gab, in der man sitzen konnte. Es war alles vorbereitet, dass man hier hätte Gäste empfangen können: Ein kleiner Tisch, eine Etagere, die nur darauf wartete, mit süßem Gebäck bestückt zu werden, und vier lederne Sitzkissen. Ungewöhnlich aber war, dass all das völlig leer war: der Tisch, die Etagere und auch die Kissen. Noch nie schien hier jemand gesessen und Tee getrunken zu haben. Ob das die leeren Plätze waren, von denen Samira gesprochen hatte? Doch wer sollte auf ihnen sitzen?

„Bedenkt genau, welche Wünsche Ihr für Eure Untertanen habt“, hatte Samira gesagt.
 
Der Emir dachte nach. Die Antwort auf diese Frage war nicht schwer: Gesundheit, Glück und Wohlstand! Also befahl er seinen Bediensteten:
 
„Bringt mir einen gesunden, einen glücklichen und einen reichen Mann hierher! Vielleicht ist das ja des Rätsels Lösung!“
 
Die Dienstboten taten, wie ihnen befohlen worden war. Noch am selben Tag fanden sich gleich drei reiche Männer beim Emir ein, die glücklich über ihren Wohlstand waren und sich zudem bester Gesundheit erfreuten. Scheich Raschid freute sich über alle Maßen und ließ den Kalifen wissen, dass er seine Aufgabe erfüllt habe. Zählte man ihn selbst mit, wären alle Plätze besetzt. Schon verbreitete sich im ganzen Emirat die Kunde, dass der neue Herrscher die Regierungsgeschäfte aufnehmen würde, als ein Bote des Kalifen eintraf und verkündete:

„Du hast den ersten Teil der Prüfung bestanden und herausgefunden, was von dir erwartet wird. Der zweite Teil jedoch steht noch aus. Es sitzen nicht die rechten Männer auf den Plätzen. Gehe in dich und überlege erneut!“

Scheich Raschid wusste sich keinen Rat. Wieder und wieder überlegte er, warum der Kalif meinte, er habe sich mit den falschen Männern umgeben, doch er fand keine Antwort auf seine Fragen. Als der Emir nicht mehr aus noch ein wusste, fiel ihm Samira wieder ein. Wenn es stimmte, dass sie die Fähigkeiten einer Hellseherin hatte, war sie die Einzige, die ihm helfen konnte. Scheich Raschid hatte sie seit dem Fest im Palast nicht mehr gesehen, doch nun befahl er seinen Bediensteten, sie zu suchen und nicht zu rasten und zu ruhen, bis sie sie zu ihm gebracht hätten.

Obwohl das Emirat nicht sehr groß war, vergingen Tage und Wochen. Samira schien wie vom Erdboden verschwunden. Keiner der Boten hatte sie ausfindig machen können. Plötzlich aber, Scheich Raschid hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, stand Samira vor ihm:
 
„Ihr habt mich gesucht, edler Scheich?“, fragte sie.

Der Emir freute sich aufrichtig, sie zu sehen, und erzählte ihr, was ihn quälte.
 
Samira aber sagte:

„Des Rätsels Lösung ist ganz einfach. […]"
 
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