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Anthologien
Iwan Zarewitsch und der graue Wolf 2.0
[...] Vom vielen Herumirren müde geworden, beschlossen sie gegen Abend, der Hähnchenbraterei noch einen Besuch abzustatten, da der Wolf nach wie vor nicht zu dem zarten Hühnchen gekommen war, das er sich bereits tags zuvor als Mahl erträumt hatte.

Sie betraten den Imbiss also von Neuem, wunderten sich jedoch sehr, als die Goldrubel, mit denen Iwan die Zeche für sich und seinen Begleiter begleichen wollte, keinen Anklang fanden.

„Guter Mann, mit Spielgeld wird hier aber nicht bezahlt!“, bellte ihn der wenig freundliche Verkäufer an, und der Zarensohn konnte sich überhaupt nicht erklären, was er damit wohl meinte.
 
„Gestattet, Söhnchen, dass ich für euch bezahle“, meldete sich plötzlich eine alte Frau, die in der Schlange hinter ihnen stand. „Es wird mir eine Ehre sein.“
 
Iwan bedankte sich gerührt bei dem Mütterchen, doch der Wolf rümpfte die Nase und begann, aufgeregt herumzuschnüffeln. Er zog den Zarensohn von der Theke fort und sagte dann:
 
„Sag, was du willst, aber diesen Geruch kenne ich.“
 
„Du musst dich täuschen, mein Freund“, erwiderte Iwan. „Wir kennen doch in dieser Stadt keine Menschenseele.“
 
„Genau das ist es“, antwortete der Wolf. „Das da war eben keine Menschenseele. Den Geruch würde ich unter Tausenden erkennen. Sieh dir die Alte doch genauer an!“
 
Tatsächlich – die krumme Nase, diese Warze, dafür konnte es nur eine Erklärung geben:
 
„Die Baba Jaga!“, rief Iwan erstaunt aus, und schon waren aller Augen in der Hähnchenbraterei auf ihn gerichtet.
 
Die alte Frau aber trat einen Schritt auf ihn zu und sagte:
 
„Ich hatte gehofft, dass du mich erkennst, edler Zarensohn!“
 
Nanu? So friedfertige Töne von einer bösen alten Hexe? Iwans Verwunderung stieg ins Unermessliche. Ehe er das Gespräch fortsetzte, zog er die Baba Jaga aus dem Laden, da auch ihm die allgemeine Aufmerksamkeit unangenehm war. Draußen sagte er, wesentlich weniger freundlich als kurz zuvor:
 
„Also heraus mit der Sprache! Was spielst du hier für ein Spiel?“
 
Die Hexe sah ihn entmutigt an.
 
„Glaube es oder nicht“, begann sie, „diesmal bin nicht ich es, die ihren Schabernack treibt. Ich bin selbst aufs Übelste hereingelegt worden. Als ich herkam – wohlgemerkt gegen meinen Willen – , merkte ich, dass man hier alles mit Geld bezahlen muss, und so beschloss ich, mir ein wenig zu verdienen.“
 
„Zu verdienen? Du? Das ist doch sonst nicht deine Art!“, mischte sich nun auch der graue Wolf ein.
 
„Das stimmt“, gab die Hexe zu. „Normalerweise nehme ich mir, was ich brauche. Bereits am Tag meiner Ankunft habe ich das bei ein paar Männern versucht, die offenbar auf der Straße lebten und für das bisschen Geld, das sie bei sich trugen, ohnehin keine Verwendung zu haben schienen. Doch da war ich an die Falschen geraten. Sie haben mich windelweich geprügelt, bis ich das Geld wieder rausgerückt habe, und mir gedroht, mich in ein Verlies zu werfen, sollte sich ein solcher Vorfall wiederholen. Dann haben sie mir erzählt, dass die Verliese hier mit den unsrigen nicht zu vergleichen sind. Sie sind viel besser bewacht, und es ist kaum möglich, die Wachen zu überlisten. Da habe ich es mit der Angst zu tun bekommen. Um nie im Leben dort zu landen, beschloss ich, es mit ehrlicher Arbeit zu versuchen.“
 
Iwan und der Wolf tauschten zweifelnde Blicke.
 
„Doch, doch, das könnt ihr mir glauben!“, beteuerte die Alte. „Ich habe mich sogar mitten auf die Straße gestellt und meine Dienste angeboten: Zauberei für jedermann, ich heile jedes Leiden! Natürlich ist meine Zauberkraft hier nicht so allmächtig wie daheim, aber für die Belange dieser Menschen genügt sie allemal.“
 
„Und?“ Der Zarensohn und sein Begleiter fragten es wie aus einem Munde.
 
„Und dann kamen Gendarmen und drohten mir, mich wegen Betruges in eines dieser Verliese zu stecken. Das war ja aber genau das gewesen, was ich eigentlich verhindern wollte. Also fragte ich sie, was sie mir denn empfehlen würden. Sie sahen meinen geliebten Mörser und den Reisigbesen und rieten mir, mich in einer Putzkolonne nützlich zu machen. Dort schufte ich nun Nacht für Nacht, und von den seltsamen Reinigungsmitteln, die hier benutzt werden, ist mein schöner Mörser schon ganz mitgenommen. Ich würde alles dafür geben, wenn ich diese Entscheidung rückgängig machen könnte.“
 
Wie bitte? Hatte Iwan sich gerade verhört, oder hatte die Hexe diese Worte tatsächlich gesagt? Nach und nach beschlich ihn eine Ahnung, dass es möglicherweise kein Zufall war, dass das Wurmloch sie genau an diesen Ort gebracht hatte. Was, wenn die Baba Jaga der zweite Bewohner des dreimalzehnten Königreiches war, dem er helfen musste?
 
Der Zarensohn dachte einen Moment lang nach, ehe er schließlich sagte:
 
„Nicht weit von hier habe ich einen Zirkus gesehen, und in jedem Zirkus gibt es einen Zauberer.“
 
„Pah“, machte die Hexe abwertend. „Die kenne ich – nichts als Aufschneider und Scharlatane. Ich habe unter ihnen noch nicht einen gesehen, der richtig zaubern konnte. Alles Tricks und Augenwischerei! Die zersägte Jungfrau ist hinterher jedes Mal wieder ganz, und die angeblich verschwundenen Tauben und Kaninchen kommen auch irgendwie wieder aus den Zylindern heraus.“
 
Nun schaltete sich der graue Wolf wieder ein, der inzwischen ebenfalls begriffen hatte, worauf es ankam. Er ging ganz nah an die Baba Jaga heran und flüsterte ihr durch seine Lefzen vertraulich zu:
 
„Es reicht doch völlig aus, dass du das weißt. Du hast doch gemerkt, dass hier niemand an echte Zauberei glaubt. Tu also so, als wären deine Zauberkunststücke auch nur Tricks, und keine Menschenseele wird je erfahren, dass du es tatsächlich kannst. Dann werden dich auch die Gendarmen nicht mehr belästigen.“
 
Widerwillig stimmte die Hexe zu, auch wenn sie es unwürdig fand, ihr Können derart zu verschleudern. Besser als die Arbeit in der Putzkolonne war das jedoch allemal, und auch ihr Mörser würde keinen weiteren Schaden nehmen.
 
Sie begab sich also in das Zirkuszelt, wo man begeistert war, auch einmal eine Frau als Zauberin zu sehen, und Iwan und der graue Wolf versprachen ihr, sie bei einer der nächsten Vorstellungen unbedingt zu besuchen.
 
„Du hast es geschafft!“, sagte der Wolf und hätte Iwan gern anerkennend auf die Schulter geklopft, wenn dieser nicht zu groß dazu gewesen wäre. So aber beließ er es bei dem verbalen Lob, und insgeheim fragten sich beide, was sie wohl als Nächstes erwarten würde.

 
 
3.      Wassilissa die Wunderschöne

 
 
Wieder und wieder durchstreiften der Zarensohn und sein Gefährte nun die große Stadt, immer auf der Suche nach Landsleuten, denen sie möglicherweise helfen mussten. Nach den vorangegangenen Begegnungen war in Iwan die Überzeugung gereift, dass es genau das war, was sein Vater von ihm verlangt hatte. Doch nachdem ihm die ersten zwei Tage in der neuen Umgebung gleich zwei Erfolgserlebnisse beschert hatten, ließen diese nun immer länger auf sich warten. Nach und nach gewöhnte er sich daran, jeden Tag etwas zu entdecken, das ihm und seinen Landsleuten bis dato gänzlich unbekannt gewesen war. All diese Dinge selbst zu nutzen, wäre ihnen jedoch im Traum nicht eingefallen. So hatte Iwan zwar inzwischen erkannt, dass die vielen Blechkisten auf der Straße offenbar tatsächlich der Fortbewegung dienten, doch nie im Leben wäre er in eine davon eingestiegen, zumal er es viel praktischer fand, weiterhin auf dem Wolf zu reiten. Die Menschen, die an ihnen vorüberhasteten, waren wiederum viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie Gelegenheit gehabt hätten, die beiden Wesen aus einer doch so anderen Welt in irgendeiner Weise seltsam zu finden.
 
Nach ein paar Tagen entschlossen sie sich, ihr Versprechen einzulösen und eine Zirkusvorstellung zu besuchen, um der Baba Jaga bei ihren Zaubereien zuzusehen. Auch wenn der Wolf sich nicht vorstellen konnte, warum man Tiere dazu brachte, im Kreis zu laufen und durch Reifen zu springen, waren sie insgesamt recht angetan von der Atmosphäre und der schwungvollen Musik. Nach der Vorstellung verließen sie die Manege, um die Hexe zu suchen. Sie fanden sie schließlich im Gespräch mit einem für die hiesigen Verhältnisse recht vornehm gekleideten Herrn.
 
„Stellen Sie sich das vor – ich bringe Sie ganz groß raus. Wenn Sie einmal im Fernsehen aufgetreten sind, kennt Sie das ganze Land!“, redete der Mann gerade auf die Baba Jaga ein. Diese verstand nicht gleich, worauf er hinaus wollte:
 
„In unserem Reich kennt mich ohnehin jedes Kind. Und da ist es völlig gleichgültig, ob ich gut in die Ferne sehen kann und wo ich dabei hintrete.“
 
Diese Erwiderung brachte den aufdringlichen Menschen jedoch keineswegs aus dem Konzept. Er fuhr einfach fort:
 
„Wissen Sie was, wir setzen uns jetzt in mein Auto und fahren in den Sender. Dann können Sie sich das gleich an Ort und Stelle anschauen.“
 
Die Hexe sah sich hilfesuchend um. Als sie Iwan und den Wolf erblickte, kam ihr eine Idee:
 
„Gut“, sagte sie. „Wenn ich schon mit Ihnen kommen muss, tue ich das aber auf keinen Fall ohne meine Freunde hier.“
 
Der Zarensohn und sein Begleiter sahen einander betreten an. Sie sollten doch wohl nicht wirklich in eine dieser Blechkisten einsteigen? Nein, das konnte nun wirklich niemand von ihnen verlangen! Dann gewahrten sie jedoch die Not in den Augen der Baba Jaga und bekamen auf einmal Mitleid mit ihr. Sie stiegen also in das Auto des Unbekannten und harrten der Dinge, die da kommen sollten.
 
Kurze Zeit später bereuten sie ihre Entscheidung jedoch fast schon wieder.
 
„Herr im Himmel, worauf haben wir uns da nur eingelassen?“
 
Ein derartiges Stoßgebet hätte wohl gerade von der alten Hexe niemand erwartet, doch in seinem tiefsten Inneren konnte Iwan ihr nur zustimmen. Nun erst wusste er das gemächliche Ruckeln der Kutschen daheim zu schätzen. Der Wolf hingegen war froh, dass sein Fell grau war. So fiel es nicht so auf, dass sein Gesicht bereits ein leicht grünliche Färbung angenommen hatte.
 
Der einzige, der nichts davon zu bemerken schien, wie es seinen Begleitern ging, war der Fahrer des Autos. Er sang fröhlich vor sich hin und war durch seine gute Laune so abgelenkt, dass er sogar etwas schneller fuhr, als er gedurft hätte.    
 
„Na also, da wären wir!“, erklärte dieser kurze Zeit später und öffnete der Hexe galant die Tür. „Wenn ich mal vorausgehen dürfte!“
 
Natürlich durfte er. Seine drei Begleiter wussten ja nicht einmal, wo sie sich befanden, geschweige denn, wohin sie hätten gehen sollen. [...]
 
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