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Deutschland
 
Festivalgeschichten

 
Ist es eigentlich legitim, in einem Reiseblog über die eigene Stadt zu schreiben? Ich denke, schon. Einerseits können dadurch Leser von weiter her angeregt werden, sie einmal selbst zu besuchen - allein das rechtfertigt meiner Ansicht nach schon diese Kategorie. Andererseits „verwandeln“ sich manche wohlbekannte Orte mitunter so, dass man auch als Einheimischer dann das Gefühl bekommt, auf Reisen zu sein, weil man diese Plätze sonst so nicht zu sehen bekommt.
 
Einer von ihnen ist in Berlin die Trabrennbahn Karlshorst, die jedes Jahr im Juni zu einem riesigen Festgelände wird. An dem Wochenende, das auf den 6. Juni, Puschkins Geburtstag, folgt, finden hier nämlich die Deutsch-Russischen Festtage statt. Dass das für mich ein geradezu magischer Anziehungspunkt ist, kann jeder nachvollziehen, der mich auch nur ein bisschen kennt. Zumal es etwas gibt, das diese Veranstaltungen von den anderen binationalen Volksfesten unterscheidet: Inmitten all der Imbissbuden mit russischen (und angrenzenden!) Spezialitäten, Kindervergnügungen wie Trampolin und Karussell, Souvenirständen und Werbeaktionen gibt es hier auch Platz für kulturelle Aktivitäten, zu denen seit Jahren das sogenannte Literaturzelt gehört. Dass es etwas mit Literatur zu tun hat, steht fest, das „sogenannte“ bezieht sich eher auf das Zelt als solches, das in den verschiedenen Jahren in durchaus unterschiedlichen Erscheinungsformen daherkommt.
 
Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es einen festen Stamm von Mitwirkenden gibt, die sich dort jedes Jahr wieder treffen. Für sie (und sicher auch für einige der Gäste) ist es eine Kontakt- und Ideenbörse, die ihresgleichen sucht. Buchprojekte, Übersetzungs- und Dolmetschaufträge, Einladungen zu Schriftstellertreffen und sogar Freundschaften sind aus diesem Zelt schon hervorgegangen und haben so dafür gesorgt, dass man auch im Rest des Jahres gern an die drei Tage im Juni zurückdenkt. Wie sagte einmal eine Sängerin so schön, als wir uns nach dem Vorjahresfestival zum ersten Mal wieder im Zelt trafen, obwohl wir alle in Berlin wohnen? „Kinder, ist das schön! Das ist doch jedes Mal wie im Ferienlager!“ Na, und wenn dieser Ausspruch nicht als Legitimation für einen Reiseblog herhalten kann, weiß ich es auch nicht …
 
Am vorigen Wochenende war es nun wieder soweit. Pünktlich am Freitag um 14.00 Uhr öffnete die Rennbahn ihre Pforten, und die ersten Besucher strömten aufs Gelände. Kurze Zeit später war auch das Kultur- und Literaturzelt wieder bevölkert, obwohl das „sogenannte“ in diesem Jahr so zutreffend war wie selten zuvor. De facto bestand das Zelt aus einer Art Pavillon, der die Bühne überdachte, die Zuschauer hingegen saßen auf Festzeltgarnituren im Freien, und es grenzte an ein Wunder, dass unsere Stoßgebete von Petrus tatsächlich erhört wurden. Der angekündigte Starkregen setzte erst am Montag ein, als niemand mehr nass werden konnte und keine Kabel drohten, im Matsch zu versinken. Das Festival aber fand bei strahlendem Sonnenschein statt, und außer einem Sonnenbrand hatte man von meteorologischer Seite nichts zu befürchten.
 
Einer der ersten Gäste war am Freitag ein Stammgast des Zeltes: Jewgeni Bogatyrjow, der Direktor des Moskauer Puschkin-Museums. Da er annähernd jedes Jahr mit der Moskauer Delegation zu den Festtagen kommt und immer neues Material über Puschkin und sein Wirken im Gepäck hat, ist es inzwischen fast schon überflüssig, darauf hinzuweisen, dass er das Museum vertritt, das dem Dichter selbst gewidmet ist, und nicht das bekannte Museum für bildende Kunst, das seinen Namen trägt, mit der Literatur aber nicht unmittelbar etwas zu tun hat. In diesem Jahr war Herr Bogatyrjow gebeten worden, etwas über Puschkins Märchen zu erzählen, und sein Vortrag geriet, wie es noch oft in den drei Tagen passieren sollte, vielmehr zu einem Gespräch mit den Zuschauern. So folgte auf seine Frage, wie viele Märchen Puschkin denn geschrieben habe, aus dem Publikum im Brustton der Überzeugung die Antwort: „Hundert!“, und das allgemeine Erstaunen war riesig, als sich herausstellte, dass es wirklich und wahrhaftig nur fünf gewesen waren und Puschkin selbst „Ruslan und Ludmilla“ noch nicht einmal dazu gezählt hatte. Aber, wie es in einer so traulichen Runde üblich ist, kamen nach und nach auch Fragen aus dem Publikum, und so wollte ein junger Mann wissen, wie es sich denn mit dem „Märchen von der Bärin“ verhielte. Es stellte sich heraus, dass es dieses Märchen wirklich gibt, es aber unvollendet geblieben ist und deshalb in dem berühmten Zyklus keine Erwähnung findet. Dass er sich aber allein schon über die Frage gefreut hatte, daraus machte er kein Hehl. Das Gespräch, das anschließend stattfand, war so rührend, dass ich es hier auf keinen Fahl unerwähnt lassen möchte. Noch immer beseelt von den Kenntnissen seiner Zuhörer, ging der Museumsdirektor nach seinem Auftritt auf den Fragensteller zu und sagte: „Junger Mann, das ist aber toll, dass Sie sich so gut auskennen. Haben Sie Philologie studiert?“ Die Antwort kam prompt, aber von ihrem Inhalt her wohl doch höchst unerwartet: „Nein. Wir wussten ja, dass Sie heute kommen, und meine Tochter ist gerade im besten Märchenalter. Da haben wir einfach mal gegoogelt.“
 
Eine weitere Tradition des Literaturzeltes ist es inzwischen, dass dort auch Musiker ihre Bücher vorstellen, sofern sie welche haben. Da der Eröffnungsabend immer mit einem großen Konzert auf der Hauptbühne beginnt, bei dem schon so bekannte Bands wie Silly, Karat und die Münchner Freiheit aufgetreten sind, bietet es sich an, den jeweiligen Protagonisten auch anderweitige Auftrittsmöglichkeiten einzuräumen - sie sind ja ohnehin gerade auf dem Gelände. So hat vor zwei Jahren Peter Schilling aus einem seiner Bücher gelesen, und in diesem Jahr stand Tino Eisbrenner mit seiner Autobiografie auf dem Programm. Allerdings scheint dieses Zelt geradezu intrinsisch zur Spontaneität zu verleiten, denn es sollte wieder einmal alles anders kommen.
 
Nachdem er sich auf der Bühne und im Publikum umgesehen hatte, stellte Tino Eisbrenner fest, dass er sich unter einem „Literaturzelt“ eigentlich immer etwas anderes vorgestellt hatte - und zwar in erster Linie ein Zelt! Einen Ort also, an dem Menschen zusammenkommen, die ruhig und sittsam demjenigen lauschen wollen, der ihnen gerade etwas vorliest, und dabei vom Trubel des Volksfestes ein wenig abschalten. In seiner Vorstellung habe es dabei aber weder Hüpfburgen, noch vorbeiziehende, Eis schleckende Flaneure noch den Lärm einer Straßenbahn im Rücken gegeben. Da die Gegebenheiten hier aber gänzlich andere waren, habe er beschlossen, nichts aus seiner Autobiografie vorzulesen, sondern einfach erst einmal ein paar Gedichte aufzusagen. Und was für Gedichte! Der „Hase im Rausch“ stand der Interpretation eines Eberhard Esche für meine Begriffe in nichts nach, und auch Warschaus „Sieben Sachen“ machten Manfred Krug alle Ehre. Verwunderung löste zwischen diesen Klassikern jedoch ein anderes Gedicht aus. Es hieß „Den Verleumdern Russlands“, und häufig sah man im Publikum zustimmendes Nicken ob der Aktualität des Textes. Umso größer war anschließend das Erstaunen, als ganz zum Schluss Verfasser und Erscheinungsjahr genannt wurden: „Alexander Puschkin, 1831“. Anschließend las Tino Eisbrenner noch aus einem eigenen Krimi, und so war es ein rundum gelungener Auftritt.
 
Auch die anderen Tage sollten noch viele Überraschungen bereithalten. Was gab es da nicht alles zu sehen! Musste mal eine Programmpause kurzfristig gefüllt werden, griff auch der Moderator selbst zum Mikro und sang etwas, zu den Klängen eines Chors aus Engels, der ehemaligen Hauptstadt der Wolgadeutschen, tanzten die Imbissverkäuferinnen vom Kiosk nebenan spontan einen Discofox, und Vadim Mesyats, ein Dichter aus Moskau und Leiter des Zentrums für zeitgenössische Literatur "Russischer Gulliver", ließ es sich nicht nehmen, selbst verfasste Lieder im Stil der sibirischen Schamanengesänge mit einer Maultrommel und einem Schildkrötenpanzer als Begleitinstrumente vorzutragen.
Das Lied von der „Schönen Maid“, das hierzulande eigentlich untrennbar mit einem inzwischen in die Jahre gekommenen Sänger verbunden ist, wurde von einer hübschen, jungen Interpretin aus Engels intoniert, und die Lesungen der aus Moskau angereisten Schriftsteller waren genau das nicht, als was sie angekündigt waren - Lesungen nämlich.
 
Der Erste, der deutlich machte, dass er eigentlich keine Lust hatte, einfach nur etwas vorzulesen, war Sergej Lukianenko, der bekannteste russische Fantasy-Autor der Gegenwart - die Verfilmung seines Romans „Wächter der Nacht“ war der erfolgreichste russische Film aller Zeiten. Obwohl es in seinen Büchern häufig recht gruselig zugeht, ist er selbst, wie ich schon vor einigen Jahren feststellen konnte, ausgesprochen nett. Und so erklärte er unumwunden, dass Treffen mit Schriftstellern in Russland grundsätzlich anders verlaufen, auch wenn er sich darüber im Klaren sei, dass in Deutschland bei Lesungen tatsächlich gelesen wird. (Ich weiß nicht, ob ich die Einzige war, die meinte, einen Subtext herauszuhören im Sinne von „Bei uns lesen die Leute immer noch selbst.“) Er aber hatte nicht einmal eines seiner Bücher dabei, sondern zog es vor, mit seinen Lesern ins Gespräch zu kommen. Dank seiner Popularität war das auch überhaupt nicht schwierig, und das Mikrofon wanderte ständig zwischen ihm und dem Publikum hin und her, sodass wir auf diese Weise erfuhren, wie es beispielsweise zu seinen Koautorenschaften gekommen war und dass er, um vom literarischen Schaffen ein wenig abzuschalten, gern auch mal Computerspiele spielt.
 
Die anderen beiden Moskauer Schriftsteller - Juri Poljakow, der Chefredakteur der berühmten „Literaturnaja gazeta“ und ebenfalls ein echter Star der russischen Gegenwartsliteratur, und Anna Gontscharowa, eine Kinderbuchautorin, die immer mit den Protagonisten ihrer Bücher, zwei kleinen Stoff-Waschbären auftritt - übernahmen das Frage-Antwort-Format dann ebenfalls, sodass es sehr lebendige Treffen wurden. Bei Anna Gontscharowa beteiligten sich sogar die Kinder von der benachbarten Hüpfburg an dem Gespräch: Obwohl ihre Eltern Eintritt dafür bezahlt hatten, dass sie jeweils eine Viertelstunde hüpfen konnten, standen sie lieber von innen an die Wand der Hüpfburg gelehnt und beantworteten die Quiz-Fragen der Autorin. Es war ein Bild, wie man es wohl nur auf einem Festival erlebt!
 
Natürlich gab es noch viele weitere Auftritte auf der Bühne unseres Zeltes, und es wäre mehr als ungerecht, diese unerwähnt zu lassen. Sie fanden auf Deutsch und auf Russisch statt - mit Musik und ohne - und haben, jeder auf seine Weise, dazu beigetragen, dass das Festival um ein wesentliches Highlight reicher geworden ist. So können die Eindrücke hier wieder einmal nur Streiflichter sein, aber auch wenn ich es in diesem Blogeintrag nicht länger ausführen kann: Victoria, Artur, Irina, Micaela, Bernd und Karsten - es war toll, wieder mit Euch auf einer Bühne zu stehen, und ich freue mich schon sehr auf die - hoffentlich noch vielen - nächsten Male!
 
 
Fotos: Jamow, Jürchott, DRF
 
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