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Lyon, 14. September 1991 (Samstag)

 
Heute sind wir wieder einmal den ganzen Tag unterwegs. Erst von Saint-Jean-du-Gard nach Nîmes und von dort aus, weil wir nichts Besseres mit uns anzufangen wussten, hierher, nach Lyon. Was ich allerdings bisher von der Stadt gesehen habe, wirkte auf mich nicht gerade anheimelnd, wenn auch typisch für französische Großstädte. Die Bahnhofsumgebung ist völlig modern verbaut, woran sich eines der offenbar etwas älteren Viertel anschließt. Wie bereits gestern angekündigt, werde ich jetzt noch einige Dinge beschreiben, die mir zum Thema „Frankreich im Großen und Ganzen“ einfallen.

 
Da wäre zunächst noch etwas zum Thema Geschichte zu sagen, die hier in allen Städten noch sehr lebendig ist. So findet man selbst in kleinen Orten wie Sète Denkmäler für die Toten der zwei Weltkriege, wobei die Jahre 1914-1918 und 1939-1945 im Großteil der Fälle als Einheit betrachtet werden, da beide Kriege für Frankreich Befreiungskämpfe waren. Auch stößt man, was vom heutigen Standpunkt aus auf den ersten Blick sicher einige Verwunderung auslöst, häufig auf Straßennamen wie „Rue Stalingrad“ oder „Avenue Stalingrad“. Die einzige Erklärung, die wir dafür gefunden haben, ist die, dass die Schlacht um Stalingrad das Kräfteverhältnis im Zweiten Weltkrieg so stark verändert hat, dass dadurch auch für die französische Seite das Blatt gewendet wurde. So viel zum historischen Teil.

 
Bei aller demokratischen Vergangenheit und Gegenwart gibt es jedoch in Großstädten ebenso wie auf dem Land eine unumstritten herrschende Klasse: die Hunde. Man sieht sie überall – in Zügen, auf Campingplätzen, majestätisch im Fonds aller möglichen Autos – und in allen Größen: vom kaum laufen könnenden Fransenbüschel bis hin zum sich seiner Schönheit durchaus bewussten Schäferhund. Stößt man trotzdem einmal in einer Einrichtung, wie zum Beispiel der Münzwäscherei in Montpellier, auf ein Schild ähnlich dem deutschen „Hunde dürfen hier nicht rein“, klingt es  unter Hinweis auf notwendige Sicherheitsvorkehrungen fast schon wie eine Entschuldigung, dass den vierbeinigen Königen der Republik der Zutritt verwehrt wird. Vor der Einführung einer Hundesteuer haben sich bisher alle Regierungen erfolgreich gedrückt – aus Furcht vor erheblichen Stimmeinbußen bei der nächsten Wahl. Diese Angst ist nach dem, was wir hier gesehen haben, auch mehr als berechtigt. Und wer sich darüber aufregt und keinen Hund hat, ist in Frankreich eben selbst schuld.

 
Sehr beliebt als Volkssport ist neben der Hundehaltung zumindest in Südfrankreich das Boule-Spiel. Hier trifft man auf den größeren Plätzen des jeweiligen Ortes zu fast jeder Tageszeit Gruppen von älteren Herren, die sich mit Zollstock und totaler Akribie gegenseitig davon überzeugen, welche Kugel das Ziel am genauesten erreicht hat.

 
Überhaupt hat man hier oft den Eindruck, dass die Herangehensweise an bestimmte Dinge recht verspielt ist: So wird eine Touristenattraktion wie das Sacré-Coeur in Paris oder die Place de l’Horloge, der Rathausplatz in Avignon, erst richtig interessant, wenn ein möglichst altmodisches Karussell direkt davor aufgebaut ist, und eine Stadt ist es erst dann wert, ein Zentrum des Massentourismus zu sein, wenn sie über einen kleinen Zug (ähnlich der Berliner Parkeisenbahn, nur verspielter) verfügt, der eine Sehenswürdigkeit mit der anderen verbindet.

 
Für Touristen, die nach studentischen Maßstäben leben, erschreckend ist das französische Preisgefüge. So trifft man beispielsweise im Stadtkern von Avignon fast ausschließlich auf Geschäfte von Markenfirmen für Bekleidung, Schmuck etc. Wo junge Leute etwa normale T-Shirts zu vertretbaren Preisen kaufen, wird aus dem Straßenbild in keiner Weise ersichtlich.

 
Eine weitere französische Besonderheit sind Preisunterschiede, die in den meisten Cafés zwischen Plätzen an der Theke und dem Innenraum bzw. auf der Terrasse gemacht werden. Die Tatsache, dass ein Kellner damit beschäftigt wird, einem den Kaffee zu servieren, kann man unter Umständen recht teuer bezahlen.

 
Trotz der Unterschiede haben fast alle französischen Städte eines gemeinsam: Sie verfügen über eine Notre-Dame-Kirche und sind streng katholisch. Hier bildet die einzige Ausnahme das Gebiet der Cévennen, wo sich die Einwohner erfolgreich gegen jeden Katholisierungsversuch zur Wehr gesetzt haben, was aber nicht bedeutet, das ist deshalb dort gar keine katholischen Gotteshäuser gäbe. So schlugen in Sain-Jean-du-Gard immer zwei Turmuhren, zeitversetzt um 2-3 Minuten, die volle bzw. die halbe Stunde, die Uhr der protestantischen und die der katholischen Kirche.

 
Die Einteilung in Provinzen und Gebiete ist eine recht zweischneidige Sache in Frankreich: Einerseits findet man überall die althergebrachten Bezeichnungen wie „Languedoc“, „Provence“, „Bretagne“ usw. Andererseits wurde 1972 eine Einteilung in Provinzen vorgenommen, die zwar insofern recht übersichtlich ist, dass die offizielle Nummer der Provinz mit Postleitzahl und Autokennzeichen identisch ist, die sich aber innerhalb der Bevölkerung überhaupt nicht durchgesetzt hat. Neben dieser Tatsache, die offensichtlich am Alltag der Menschen vorbei entschieden wurde, stößt man häufig auf einige Dinge, die uns unlogisch erscheinen. Warum beispielsweise geht im Zug, wenn man den Lichtschalter über dem rechten Sitzplatz betätigt, die Lampe über dem linken an? Warum haben Postkarten, die nur im Umschlag verschickt werden dürfen, auf der Rückseite trotzdem ein Adressfeld und einen gekennzeichneten Platz für die Briefmarken?

 
Doch obwohl es hier viele Dinge gibt, die einem bei der ersten intensiveren Begegnung mit Frankreich unverständlich bleiben, steht eines fest: Das Land und die Leute sind auf jeden Fall die Reise wert, und sicher lohnt es sich, hier nicht nur Eindrücke auf den ersten Blick zu sammeln, sondern sich eingehender mit dem „Hexagon“ zu befassen.

 
Unsere Zeit hier geht fürs Erste zu Ende. Wir sitzen auf dem Bahnhof von Lyon, wo es (wie sicher auf allen westeuropäischen Bahnhöfen um diese Zeit – es ist kurz nach halb zehn abends) von ziemlich schrägen Gestalten wimmelt. Nichtsdestotrotz haben uns die letzten zehn Tage viel gegeben und uns dieses Land etwas näher gebracht, was wohl das Ziel einer jeden Reise in andere Gefilde sein sollte.

 
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