Alice im Leipziger Wunderland
Buchmessen waren für mich schon
immer etwas ganz Besonderes. Zunächst fiel es mir noch schwer, einen Vergleich
zu finden, der verdeutlichen könnte, warum ich mich dort trotz der zum Glück
jedes Jahr größer werdenden Menschenmassen so wohl fühle. Bei meinem ersten
Aufenthalt auf der Frankfurter Buchmesse schließlich kam mir der erhellende
Gedanke: Ich fühle mich auf Buchmessen wie Alice im Wunderland. Überall
erwartet einen etwas Überraschendes, in jedem Gang gibt es etwas zu entdecken. Deshalb
habe ich mich in diesem Jahr gedanklich auf Lewis Carrolls Spuren begeben und
dabei, getreu meiner Vorliebe für Märchen, wirklich einige Parallelen zu seinem
berühmten Werk gefunden, wenn auch in einer etwas anderen Reihen- und
Rangfolge.
Das Erste, was einem in den Sinn
kommt, wenn man sich der Messe am Samstag, dem traditionell besucherstärksten
Tag, mit dem Auto nähert, ist das Croquetspiel bei der Herz-Königin. Zum Glück
wird hier niemand zum Tode verurteilt, und auch Flamingos bleiben grundsätzlich
verschont, doch das Rangieren der Parkplatzwächter, die innerhalb kürzester
Zeit buchstäblich Tausende von Autofahrern einweisen müssen, ist sicher eine
ähnlich schwierige Aufgabe, die räumliches Vorstellungsvermögen und jede Menge
Fingerspitzengefühl erfordert. Dass das alles andere als einfach ist, bekommt
man als Besucher schon lange vorher zu spüren, denn bis zum Parkplatz zieht
sich häufig eine kilometerlange Autoschlange. Daher mein Tipp an alle, die sich
dieses Vabanquespiel ersparen möchten: Nutzen Sie entweder die öffentlichen
Verkehrsmittel (da es einen extra Bahnhof „Leipzig-Messe“ gibt, ist das
problemlos möglich), oder kommen Sie so früh, dass Sie noch vor 10.00 Uhr, der
Öffnungszeit der Messe, auf dem Parkplatz sein können. Dann haben Sie zumindest
eine Chance, dieses Spiel gegen die Herz-Königin zu gewinnen.
Hat man die Messehallen betreten
und versucht, sich ohne einen Katalog oder das Programmheft für die
Veranstaltungsreihe „Leipzig liest“ zu orientieren, kann man nachempfinden, wie
sich das weiße Kaninchen fühlen muss, das ständig Angst hat, zu spät zu kommen.
Für die Abendveranstaltungen des Begleitprogramms empfiehlt es sich ohnehin,
bereits im Vorfeld Karten zu kaufen, da diese die Tendenz haben, schnell
ausverkauft zu sein. Die Lesungen und sonstigen Veranstaltungen auf den
einzelnen Bühnen sind halbstündlich getaktet, und man plant am besten ein wenig
im Voraus, welchen Autor man sich anhören möchte. Dabei sollte man allerdings
stets einige Zeit einplanen, um von einer Veranstaltung zur nächsten zu kommen,
da das Messegelände mit fünf Hallen recht groß und auch ein wenig verzweigt
ist. Versucht man, an zwei verschiedenen Orten zwei direkt aneinander
anschließende Lesungen zu besuchen, kommt man mit dem Blick auf die Uhr ebenso ins
Rennen wie weiland das weiße Kaninchen.
Dann kann es, wenn man Pech hat,
auch geschehen, dass die Autoren, sobald man am nächsten Veranstaltungsort
angekommen ist, genauso schnell und unerwartet verschwinden wie die Grinsekatze
und man selbst nur noch erfährt, dass Herr X oder Frau Y eigentlich gerade noch
dagewesen sei. Mir ist es vor ein paar Jahren mit Steffen Möller so gegangen,
einem deutschen Autor, der in Warschau lebt und sehr unterhaltsame, aber auch
aufschlussreiche Bücher über das kulturelle Spannungsfeld zwischen Polen und
Deutschen schreibt. Erwischt man die Autoren aber doch noch, lohnt es sich
eigentlich immer, ihren Geschichten zu lauschen, denn häufig geben sie einem
die Möglichkeit, eine neue Welt oder zumindest die eine oder andere Facette
davon kennenzulernen.
Bei diesen Lesungen und
Gesprächen wünsche ich mir ab und zu auch die Kekse aus dem Wunderland, mit
denen man erst größer und anschließend wieder kleiner werden kann. Wohl
dosiert, hätten sie mir sicher schon so manches Mal gute Dienste geleistet.
Vielleicht wären dann auf einigen Fotos weniger Köpfe der Menschen vor mir und
dafür mehr von den eigentlichen Akteuren zu sehen, und ich selbst hätte mich
vielleicht auch weniger verrenken müssen, um einen Blick auf diese zu
erhaschen. Besonders schwierig ist das meinen Erfahrungen nach an den Ständen
in der Glashalle, dem Haupttrakt des Messegeländes. Hier sind im Wesentlichen
die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender vertreten, und die
einzelnen Stände sind nicht sehr groß, das Programm dafür aber umso
interessanter. Wenn man rechtzeitig da ist, ergattert man mit etwas Glück noch
einen Sitzplatz auf den weißen, würfelförmigen Kunstlederhockern, wenn nicht,
sitzt man entweder auf dem Fußboden oder hört sich die Lesung im Stehen an.
Besser gelöst ist dieses Problem im großen ARD-Bereich, der neben besagten
Hockern über Videobildschirme verfügt, auf denen man auch aus etwas größerer
Entfernung gut verfolgen kann, was sich auf der Bühne tut, und in der Arena der
Leipziger Volkszeitung, denn dort sind die Sitzplätze tribünenförmig
angeordnet. Da das Gastland 2019 Tschechien war, habe ich sowohl in der Arena
als auch in der Glashalle den Autor Jaroslav Rudiš erlebt, der meine ganz
persönliche Entdeckung der diesjährigen Buchmesse war. Sein Roman „Winterbergs
letzte Reise“ rief in mir viele Erinnerungen an den braven Soldaten Schwejk wach,
sodass ich mich schon jetzt darauf freue, das Buch zu lesen, das bereits am
letzten Tag auf der Messe restlos ausverkauft war.
Teepartys wie die des Märzhasen
gibt es bei der Messe zwar nicht im direkten Sinne, aber in diesen Märztagen
kann man die Begegnungen an den Ständen der Verleger durchaus damit
vergleichen. Ob nun als Autor oder als Leser - man kommt mit den
„Büchermachern“ in Kontakt, tauscht Anregungen aus und nimmt auf jeden Fall
gute Ideen für das Schreiben oder das Lesen mit nach Hause. Inzwischen bekommt
man hier und da auch ein Stück Schokolade mit auf den Weg, und die Gespräche
sind immer wieder sehr anregend und nett, sodass auch ich schon den einen oder
anderen Stand mit dem Gedanken verlassen habe: Es war mir ein Fest!
Und dennoch - Kenner des
carrolschen Märchens werden nun sicher sagen: Da fehlt doch noch einer! Was ist
mit dem verrückten Hutmacher? Ob Sie es glauben oder nicht: Auch ihn und
seinesgleichen werden Sie in Leipzig finden! Parallel zur Buchmesse findet
nämlich seit 2014 in Halle 1 des Messegeländes die Manga-Comic-Convention
statt, zu der sich Tausende von Cosplayern einfinden, junge Menschen in selbst
gestalteten Fantasy-Kostümen aller Art. Sie machen das Bild der Messe um ein
Vielfaches bunter, und eine gewisse Portion Verrücktheit ist bei ihrem
aufwändigen Hobby sicher eine der Grundvoraussetzungen.
Das war er nun also, mein
diesjähriger Ausflug in mein persönliches Wunderland, und wer weiß, vielleicht
sehen wir uns ja im nächsten Jahr, wenn es wieder seine Pforten für alle
Interessierten öffnet?!