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Deutschland
Zwei Paradoxa an einem Tag

Das Buch über München, das ich mir gerade gekauft habe, teilt mir als Erstes mit, dass es in Bayern nicht gerade typisch sei, viele Worte zu machen. Damit sind auch schon beide Paradoxa umrissen, die diesen Tag für mich so spannend machen sollten.

Da wir unseren Kurztrip in die bayerische Hauptstadt ein wenig außerhalb gestartet hatten, war unsere erste Station die S-Bahn, die uns mit einem ausgefallenen Zug davon überzeugte, dass der öffentliche Nahverkehr entgegen allem, was man als Berliner sonst so denkt, anderswo auch nicht besser funktioniert als bei uns. Eines aber war doch anders. Ob es am Sommer und der allgemeinen Urlaubsstimmung lag, kann ich nicht sagen, aber es stand im krassen Gegensatz zur Aussage des Reiseführers.

Es dauerte nämlich gar nicht lange, bis sich ein älterer Herr in unser Abteil setzte, dessen Enkel im Nebenabteil intensiv mit Computerspielen beschäftigt waren. Zumindest zu fünfzig Prozent. Unser Mitreisender erzählte uns nämlich freundlich-freimütig, wie das neue Pokémon-Go-Spiel doch die Jugendlichen in seinen Bann ziehe und wie interessant es doch sei, dass sich von seinen beiden Enkeln einer sehr dafür interessiere, während es dem anderen völlig egal sei. Nach übermäßiger Wortkargheit klang das jedenfalls schon einmal nicht. Auch auf meine Frage hin, wie hoch der Münchner Fernsehturm ist, der gerade in unserem Blickfeld auftauchte, bemühte sich der nette Herr redlich, uns – trotz völliger Ahnungslosigkeit – möglichst erschöpfend Auskunft zu geben. Dass es sich dabei um den 291 Meter hohen Olympiaturm handelte, habe ich inzwischen selbst herausgefunden.

Das war allerdings nur eine von mehreren höchst unterhaltsamen Begegnungen an diesem Tag. Als Nächster setzte sich ein ebenfalls nicht mehr ganz junger Herr mit einem großen Fotoapparat vor dem Bauch in unser Abteil. Dieser Mann machte auf mich erst einmal den Eindruck, als handele sich es bei ihm auch um einen Touristen. Als wir uns so unsere Gedanken machten, wo wir wohl am besten einen Biergarten finden würden, um Weißwürste zu essen (man soll schließlich kein Klischee auslassen), erbot er sich sofort, uns den Weg zum Hofbräuhaus zu zeigen. Er selbst arbeite nun, da er in Rente sei, alle Spaziergänge ab, die er in einem Buch über München gefungen habe, weil er früher, als er noch gearbeitet habe, nie dazu gekommen sei, die Stadt gründlich zu erkunden. Da er noch etwas Zeit habe, bis sein Rentnerstammtisch anfinge, könne er uns auch noch zum Hofbräuhaus bringen. Als er sich dann doch um eine Querstraße geirrt hatte und eine Passantin anhielt, um nach dem Weg zu fragen, wunderte es mich auch nur noch am Rande, dass die Verkäuferin aus dem Geschäft, vor dem wir stehen geblieben waren, gleich auf die Straße hinauskam und ebenfalls fragte, ob sie uns helfen könne. Mit vereinten Kräften wiesen uns dann alle drei den richtigen Weg.

Dass wir im Hofbräuhaus nicht lange allein bleiben würden, stand fast schon zu vermuten, und so landeten wir zielsicher am Tisch eines deutsch-kanadischen Pärchens, das höchstens einige Jahre jünger war als wir und gerade seinen Urlaub in Deutschland verbrachte. Er stammte ursprünglich aus Mecklenburg, lebt aber seit vielen Jahren in Kanada, sie kam aus Québec, und so gab es genügend Gesprächsstoff, um auch längere (sicher saisonbedingte) Wartezeiten gut zu überbrücken.

Als sich auf dem Rückweg eine Dame beim Warten auf die S-Bahn neben mich setzte und mir in Kurzform ihre gesamte Lebensgeschichte erzählte, die sich zwischen Bayern, Berlin und Italien abgespielt hatte, begann ich, endgültig erhebliche Zweifel an der Aussage des oben erwähnten Reiseführers zu hegen. Denn auch wenn ich in den meisten Fällen selbst für ein nettes Gespräch unter Unbekannten zu haben bin, hatte ich keines von ihnen an diesem Tag initiiert, und dass die jeweiligen Gesprächspartner keine Freunde vieler Worte waren, konnte ich auch nicht behaupten. Mir war es jedenfalls durchaus angenehm, den Autor des soeben erstandenen Buches auf diese Weise widerlegt zu sehen.

Damit wären wir auch beim zweiten Paradoxon dieses Tages – dem Buch selbst. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, mir in München ein bestimmtes Buch über diese Stadt zu kaufen, hätte aber nie gedacht, wie schwierig sich das gestalten würde. Einen ersten Eindruck davon bekam ich, als ich bereits in den ersten Souvenirgeschäften, direkt neben dem Hofbräuhaus, vergeblich nach einem Bücherregal suchte. Bierseidel, Kühlschrankmagneten, Trachtentücher, Postkarten – alles kein Problem, aber Bücher? Das einzige, das ich entdecken konnte, war ein Kochbuch mit Hofbräuhaus-Rezepten. Hatte ich diese Erfahrung noch der Nähe zum Hofbräuhaus und der Tatsache zugeschrieben, dass man in dieser Gegend eher an Kulinarischem als an Literarischem interessiert ist, sollte ich bald merken, dass dieses Phänomen offenbar auf das ganze Stadtzentrum von München zutraf. Wo immer ich eine Bücherabteilung vermutete, wurde ich eines Schlechteren belehrt. Selbst in den Kaufhäusern, auf deren Bücherabteilung in Berlin zumindest bis zu einem gewissen Souvenir- und Bestsellergrad immer Verlass ist, war diese bedeutend kleiner und in einem Fall sogar gewissermaßen „an den Katzentisch“ verbannt, also in ihrer geradezu erschreckenden Kleinheit erst nach beharrlichem Fragen auffindbar.

So war es tatsächlich fast schon paradox, dass ich letztendlich doch noch fündig wurde. Nachdem ich immer wieder in Filialen einer großen Buchhandelskette geschickt wurde, die inzwischen geschlossen waren, habe ich zwischen all den Drogerien, Apotheken und Juweliergeschäften tatsächlich eine Buchhandlung gefunden, die dann auch noch das von mir gesuchte Buch vorrätig hatte. So habe ich nach vielen Jahren der Abwesenheit München von zwei Seiten völlig neu kennengelernt – viel Kommunikation und wenig Bücher –, die beide auf gänzlich abweichenden Erwartungen beruhten und schließlich doch zu positiven Erinnerungen führten.
 
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