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Das Festival und ich

Eigentlich sind wir beide fast genau gleichaltrig, dieses Festival und ich. Vielleicht ist das ja einer der Gründe, weshalb ich grundsätzlich viel für Festivals übrig habe. Die ersten Konzerte dieser Art fanden also nur 2-3 Wochen, nachdem ich das Licht der Welt erblickt hatte, statt. Allerdings wussten wir damals noch nichts voneinander – schon weil ich in jenen nasskalten Februartagen mit anderen Dingen beschäftigt war –, und das sollte auch noch eine ganze Weile lang so bleiben.

Ungefähr dreieinhalb Jahre später sind wir uns zum ersten Mal begegnet, wenn auch noch unter ungewöhnlichen Umständen: ich saß auf den Schultern meines Vaters und das Festival war Teil eines viel größeren Ereignisses. Nicht einmal am Namen konnte man auf Anhieb erkennen, dass es da war. Dennoch habe ich damals einige der Lieder kennengelernt, die mich noch lange Zeit begleiten und durchs Leben tragen sollten.

Mehr als zehn Jahre später durfte ich das Festival allein besuchen. Wobei „allein“ nicht der richtige Ausdruck ist, weil ich nicht lange allein blieb – es bildeten sich Freundschaften, die teilweise bis heute andauern. „Selbstständig“ trifft es wohl eher. Wir kümmerten uns selbst um die Eintrittskarten, wälzten schon Wochen vorher die Zeitung mit dem Festivalprogramm, um uns einen genauen Plan zurecht zu legen und nur ja nichts zu verpassen.

Vieles hat mir das Festival in jener Zeit beigebracht: Ich lernte Musik aus aller Herren Länder kennen und schätzen, traute mich, ohne Scheu auch auf bekannte Künstler zu zu gehen und sie um ein Autogramm oder gar ein Interview zu bitten. So stellte sich auch die Erkenntnis ein, dass man Interviews sehr wohl ohne Diktiergerät oder sonstige Aufnahmetechnik führen kann, wenn man nur von genügend Freunden umgeben ist, die das Gesagte bereitwillig mitschreiben. Irgendwann begriff ich, dass man immer irgendwie eine gemeinsame Sprache finden kann, auch wenn das Unterfangen zunächst aussichtslos erscheint: vielleicht können ja die Sänger aus dem Libanon zufällig Russisch, oder es gesellt sich ein hier lebender Nicaraguaner hinzu, der uns bei dem Gespräch mit den chilenischen Musikern hilft.

Viele Autogramme, Fotos und Schallplatten haben sich in dieser Zeit angesammelt, und ich hüte sie noch immer wie einen Schatz. Das Gefühl, dass man die besten Partys nicht etwa in einer Disco oder einem Klub, sondern mit guten Freunden, mindestens einer Gitarre und gemeinsamen Liedern feiern kann, ist mir ebenfalls bis heute erhalten geblieben.

In unserer gemeinsamen Sturm-und-Drang-Zeit brach das Festival einmal im Jahr regelrecht über mich herein: mächtig und ohne Bedenken. Es raubte mir eine Woche lang den Schlaf und war selbst bei meiner Aufnahmeprüfung an der Uni dabei. Während  eines Gesprächs, bei dem es eigentlich  um die Kontrolle meiner Russischkenntnisse ging, kam die Prüferin gleich auf dieses Thema zu sprechen und wollte wissen, was denn an diesem Festival so anziehend sei. Das jedoch lässt sich weder auf Deutsch noch auf Russisch mit einem Satz beschreiben. Es war die ganze Atmosphäre, die Musik, die Weltoffenheit, die eine Woche lang durch unsere Stadt strömte.

Das Festival war etwas Besonderes, und ich war immer bestrebt, Menschen, die mir wichtig waren, mit diesem Festival bekanntzumachen. Ich wollte, dass sie einander mögen. Lernte ich jemanden in einem anderen Zusammenhang kennen, überlegte ich häufig, ob er wohl zum Festival passen würde.

Inzwischen sind die Zeiten anders: Während ich in der ganzen Zeit nur einmal meinen Namen geändert habe, hieß das Festival zwischendurch immer wieder anders. Doch auch das hat nicht dazu geführt, dass wir einander aus den Augen verloren hätten. Ich verfolgte die Ausgänge und Programme, und gemeinsame Freunde erzählten mir fast jedes Jahr vom Festival. Es war, als würden sie mich von ihm grüßen. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, bin auch ich zu Konzerten gegangen, meist, um die Künstler zu sehen, die mir schon Jahre zuvor ans Herz gewachsen waren. Viele von ihnen hatten bei diesem Festival ihre ersten Auftritte in Deutschland (oder zumindest in diesem Teil desselben) und sind inzwischen aufgrund ihrer Berühmtheit nicht mehr aus dieser Szene wegzudenken wie zum Beispiel Leon Gieco, der 1987 das erste Mal dabei war und auch 2001 wieder in ausverkauften Sälen spielte.

Es war schon immer eine der Spezialitäten des Festivals, das es große Stars wie Pete Seeger, Mercedes Sosa und Miriam Makeba auf die Bühne brachte, aber auch jungen Künstlern ein Forum bot, die sich noch am Anfang ihres künstlerischen Weges über die Bühnen unseres und anderer Länder befanden.

Genau so sollte es auch in diesem Jahr wieder sein. Das Festival ist eben auch nach so vielen Jahren noch immer für Überraschungen gut. Ich hatte noch gar keine Gelegenheit gehabt, selbst daran zu denken, als das Festival bereits an mich dachte. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, rief es bei mir an, um zu erfahren, welcher russische Künstler vielleicht eine neue Klangfarbe zu bereits erfolgreichen Formaten beitragen kann.

Selten ist mir eine Antwort leichter gefallen, denn Alexandra Arbatskaya ist eine Sängerin, die man schon längst einmal hätte auch in unseren Landen auf der Bühne erleben sollen. Mit ihrem Stimmvolumen, ihrer Sensibilität und ihrer Ausdrucksstärke bringt sie dem Publikum nicht nur ihre eigenen Lieder nahe, sondern selbst jene, die man eigentlich schon lange zu kennen glaubte.

So wurde das diesjährige Festival auch zu einer Begegnung mit alten Bekannten - seien es nun Menschen wie Tino Eisbrenner, dessen Musik schon bei uns im Schulfunk der Hit war, oder russische Lieder, denen er dankenswerterweise ein völlig neues deutschsprachiges Gewand gegeben hat - und guten Freunden, die in gemeinsam durchgesungenen Nächten wieder etwas von dem Festivalgefühl auferstehen ließen, dass ich fast schon verschüttet geglaubt hatte.

Wir haben uns beide verändert: Das Festival ist keine stürmische Massenveranstaltung mehr, mit deren Plakaten die eine Hälfte Berlins quasi tapeziert war, und ich zähle, wenn ein Festival vorbei ist, nicht mehr die Wochen bis zum Beginn des nächsten. Aber dennoch hängt wieder ein Festivalplakat in meinem Zimmer, das die Unterschriften derer trägt, die es für mich zu etwas ganz Besonderem gemacht haben.

 
 
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