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Deutschland
 
Eine Stadt – deutlich besser als ihr Ruf

 
Noch heute kann es einem passieren, dass, wenn man den Namen „Schwedt“ erwähnt, die erste Reaktion des Gesprächspartners ist: „Das sind doch die mit dem Armeeknast!“ Auch wenn an diesem Satz auf den ersten Blick vieles richtig erscheint, eines ist auf jeden Fall falsch: die Zeitform! Ja, es hat eine Zeit gegeben, in der die Warnung „Mach das bloß nicht, sonst landest du in Schwedt!“ wirklich nichts Gutes verhieß. Das ist allerdings fast ebenso lange her wie die Tatsache, dass man beim Anblick von Fabrikschornsteinen unweigerlich zusammenzuckte, weil das, was aus diesen gemeinhin in die Luft geblasen wurde, für die Umwelt eigentlich nur schädlich bis sehr schädlich sein konnte. Auch wenn man Schwedt in dieser Hinsicht nicht mit Bitterfeld und anderen Chemie-Standorten vergleichen konnte, die aufgrund ihrer traurigen ökologischen Situation zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt sind, weil die Petrolchemie schon immer etwas sauberer war als die Braunkohleverarbeitung und die Farben- und Filmproduktion, ist allein die Tatsache, dass eine Stadt bereits vor der Wende ein Chemiestandort war, für viele schon ein Grund, die Nase zu rümpfen, und zwar bis heute!

 
So hat also Schwedt auch fast drei Jahrzehnte, nachdem die Belegschaft des PCK auf weniger als ein Sechstel geschrumpft wurde und das Schreckgespenst der NVA den Weg alles Irdischen gegangen ist, immer noch damit zu kämpfen, dass Vertreter der mittleren und älteren Generation östlich der Elbe diesem Bild nichts Aktuelles entgegenzusetzen haben.

 
Vielleicht wissen sie es ja einfach nicht besser? Dem kann auf jeden Fall abgeholfen werden. Da ich die Stadt erst unmittelbar zu Wendezeiten genauer kennengelernt habe, hatte ich das Glück, ihr relativ unbeeinflusst von Vergangenem gegenübertreten zu können, und verfolge nun schon seit fast 27 Jahren ihre Entwicklung mit einem Wechselbad der Gefühle, dass über einen langen Zeitraum von Bedauern, danach von Hoffnung, immer aber von Faszination geprägt war.

 
Natürlich kann man nicht über Schwedt schreiben, ohne ein paar Wort vor allem über seine jüngere Geschichte zu verlieren. 1265 erstmals urkundlich erwähnt, war es lange Zeit Zentrum des Tabakanbaus in der Region. Als die Front 1945 immer näher und auf Berlin zu rückte, wurde die Stadt, statt sie, um Leben zu retten, aufzugeben, von den Nazis zur Festung erklärt und anschließend von der Roten Armee im Sturm erobert, was zu einem Verlust unzähliger Menschenleben und von 85% der Bausubstanz führte. Dass historisch wertvolle Gebäude wie das alte Stadtschloss nicht wiederaufgebaut wurden, ist dann allerdings schon wieder der DDR und ihrem gestörten Verhältnis zu Adelshäusern (in beiden möglichen Bedeutungen) geschuldet.

 
Anfang der 60er-Jahre begann dann sozusagen die Schwedter Neuzeit. Industriebetriebe wurden aufgebaut, junge Leute aus dem ganzen Land in die Stadt geholt und jährlich wachsende Einwohnerzahlen verzeichnet. Dass in diesem Zuge auch für die nötige Infrastruktur gesorgt wurde, versteht sich bei so einem Vorzeigeprojekt von selbst. Schwedt wuchs und damit auch das Selbstbewusstsein seiner Bewohner.

 
Mit der Wende kamen dann Städte, die gewissermaßen um einen Großbetrieb herum gebaut worden waren, aus der Mode, weil mit den neuen Technologien nur noch ein Bruchteil des Personals vonnöten war. Die Tabakproduktion wurde eingestellt, und auch andere ehemals große Betriebe mussten Personal abbauen. Es kam, wie es kommen musste: Die jungen Leute sahen keine Perspektive mehr, und wer nicht gerade noch einen Arbeitsplatz hatte, wanderte ab. So verlor die Stadt innerhalb von nicht einmal zehn Jahren circa ein Viertel ihrer Einwohner. Die alten Plattenbauten wurden teils gänzlich abgerissen, teils neu aufgeteilt, sodass Wohnungen zusammengelegt und zum vorherigen Preis einer einzigen Wohnung vermietet wurden, um die Mieter zu halten; teils wurden auch Häuser im wahrsten Sinne des Wortes zurückgebaut, also um einige Stockwerke gekürzt.

 
Man versuchte, den in die Jahre gekommenen Betonkästen ein individuelleres und gepflegteres äußeres Erscheinungsbild zu geben, und gleichzeitig begannen die Menschen, die geblieben waren, nach Wegen zu suchen, damit Neues entstehen kann. So entwickelten sich, außerhalb der Stadtgrenzen zunächst fast unbemerkt, mehrere kleine Pflänzchen, die einige Zeit später auch der Stadt zu einer zarten neuen Blüte verhelfen sollten.

 
Natur und Kultur waren nun die neuen Standbeine, denn beide hatte es in Schwedt schon immer reichlich gegeben. Die Tatsache, dass die Oder zwar irgendwann begradigt, aber zum Glück nicht ihres Poldergebietes beraubt worden war, brachte Wasservögel von überallher in den Streifen Land zwischen der Stadt und der Grenze zu Polen. (Diese war in den letzten Jahren der DDR gänzlich geschlossen gewesen, sodass im „Niemandsland“ davor erst recht ideale Brutbedingungen geherrscht hatten.) Zum Glück hat der Mensch in diesen Zustand auch nicht eingegriffen, sodass inzwischen gemeinsam mit Polen hier der Nationalpark Unteres Odertal entstanden und Schwedt die erste Stadt ist, die sich „Nationalparkstadt“ nennen darf. Spaziergänger und Radfahrer von nah und fern zieht es nun zu jeder Jahreszeit hierher, und wer einmal auf dem Deich am alten Flusslauf der Oder gewandert ist, kommt auch gern ein zweites und ein drittes Mal hierher.

 
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem zweiten dieser „Pflänzchen“. Inzwischen hat es unter seinem Nach-Wende-Namen bereits sein 25-jähriges Bestehen gefeiert, auch wenn die Abkürzung ubs nach wie vor wohl nur Eingeweihten etwas sagt. Es handelt sich dabei um die Uckermärkischen Bühnen Schwedt, die mit inzwischen vier verschiedenen Spielstätten im wahrsten Sinne des Wortes für jeden etwas zu bieten haben. Von beeindruckenden Klassik-Inszenierungen, die nie verstaubt und immer aktuell wirken, über Boulevardtheater und Bearbeitungen anderer literarischer oder cineastischer Meisterwerke, Musikrevuen bis hin zu Gastspielen verschiedenster Künstler steht alles auf dem Programm, und mit einer Publikumsabstimmung wird alljährlich sogar der „Oscar der Uckermark“ an den besten Schauspieler verliehen. Alljährlicher Höhepunkt des Theaterjahres ist die Aufführung beider Teile des „Faust“ am Ostersamstag, zu der Faust-Fans aus allen Teilen Deutschlands anreisen und, auch wenn sie die jeweilige Inszenierung schon fast auswendig kennen, immer wieder etwas Neues für sich entdecken. Jeden Sommer gibt es ein eigens dafür inszeniertes Stück auf der Freilichtbühne, die die neueste Errungenschaft unter den Bühnen ist. Doch egal, ob „Großes Haus“, „Kleiner Saal“, „intimes theater“ oder besagte „Odertalbühne“ – überall wird etwas geboten, das einen nie mit dem Gefühl nach Hause gehen lässt, man hätte genauso gut etwas anderes mit dem Abend anfangen können.

 
Inzwischen hat sich auch im Stadtbild einiges getan. Alte Häuser wurden rekonstruiert, neue Wandgemälde sind entstanden, und im Zentrum und am neu entstandenen Hafen auf dem Oderkanal begegnen einem geradezu auf Schritt und Tritt Skulpturen des Schwedter Bildhauers Axel Schulz. Bei jedem Besuch findet man etwas Neues, und mich freut es besonders, wenn ich inzwischen auch in Berlin statt der eingangs erwähnten Frage immer öfter höre: „Schwedt? Das sind doch die mit dem tollen Theater?!“
 
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