Eine Katze, Piroggen
und ein Sonnenbrand im Herbst
Angefangen hatte alles mit der angespannten Situation auf dem
Berliner Wohnungsmarkt und zwei Anrufen. Der erste von ihnen erreichte uns,
weil es in Berlin nicht möglich ist, auf die Schnelle eine bezahlbare
„Studentenbude“ zu finden, und brachte uns die Tochter eines guten Freundes als
Mitbewohnerin ins Haus. Der zweite Anruf kam am Ende ihrer ersten
Semesterferien und zwar genau einen Tag, bevor sie aus dem heimatlichen London
wieder bei uns eintreffen sollte, und begann mit den Worten: „Wir haben hier
eine Situation …“ Auf meine Nachfrage hin stellte sich heraus, dass sich die
Lebenssituation unserer Mitbewohnerin in London verändert hatte und nun niemand
mehr dort sein würde, der auf die Katze aufpassen könnte. Von dieser Erkenntnis
war es dann auch nicht mehr weit bis zu der Frage: „Wollt ihr eine Katze?“
Natürlich wollten wir. Allerdings war uns allen klar, dass es mit der Ankunft
unserer vierbeinigen Mitbewohnerin noch eine Weile dauern würde, weil natürlich
noch Impfungen und andere Tierarztbesuche zu absolvieren sein würden, bevor das
Tier die Grenze passieren durfte.
Einige Wochen später war es dann soweit. Alle nötigen
Impfungen waren ordnungsgemäß im Haustierpass vermerkt, und unsere Mitbewohnerin
war bereit, sich auf den Weg zu machen, um ihre geliebte Katze zu uns zu holen.
Dabei hatten wir allerdings die Rechnung ohne den Wirt - in diesem Fall die
Fluggesellschaften - gemacht, denn auch wenn das Fliegen in den letzten Jahren
für alles, was zwei Beine hat und allein einchecken kann, deutlich
erschwinglicher geworden ist, gilt das für Tiere keineswegs. Billig-Airlines
transportieren Haustiere auf dieser Strecke wohl grundsätzlich nicht, und die
anderen sind eben genau das nicht, was wir in diesem Fall gebraucht hätten:
billig. Dafür war nun guter Rat genau das, was die Flugtickets auch waren:
teuer.
Wir saßen also etwas unschlüssig zusammen, überlegten hin und
googelten her, bis ein einfacher Einwurf des besten aller Ehemänner die
rettende Idee brachte: „Mit dem Auto sind es durch den Eurotunnel bis London
nur 13 Stunden.“ Wenn das keine Aussicht war! Danach ging alles sehr schnell:
Wir rechneten akribisch genau aus, wann wir in Calais sein könnten, wenn wir
gleich nach der letzten Schulstunde bzw. Uni-Übung losfahren würden, buchten
die Tickets für den Eurotunnel (der anders, als es der Name vermuten lässt,
kein normaler Autotunnel ist, sondern nur von einem Autozug befahren wird) und
buken eine Unmenge Piroggen.
Im Laufe mehrerer langer Autofahrten hat sich nämlich auch in
unserer Familie die Erkenntnis durchgesetzt, dass Piroggen dafür die perfekte
Verpflegung sind. Die gefüllten Teigtaschen schmecken nämlich auch kalt und
nach einiger Lagerzeit noch gut, machen satt und lassen sich ohne größere
Schäden auch im Auto essen. Auf diese Weise ersparen sie einem größere
Pausenzeiten an Raststellen, und wenn man sich beim Fahren abwechselt, kann man
sich auf diese Weise auch beim Essen abwechseln.
Nicht einmal 48 Stunden, nachdem wir den Entschluss gefasst
hatten, nach London zu fahren, ging es auch schon los. Unsere Rechnung ging
trotz einer Unmenge von Baustellen und Geschwindigkeitsbegrenzungen auf
deutschen Autobahnen auf, und so kamen wir völlig rechtzeitig auf dem riesigen
Areal des Eurotunnels an. Wir fuhren mit dem Auto in den Zug, blieben entgegen
allem, was wir sonst von Autozügen kennen, während der Fahrt im Auto sitzen und
wurden auf der anderen Seite des Ärmelkanals mit den besten Wünschen für einen
schönen Aufenthalt und der Erinnerung daran, bitte tunlichst auf der linken
Seite zu fahren, in die englische Nacht entlassen.
So begann für uns ein Wochenende voller Erlebnisse und neuer
Eindrücke, die wir nun auf keinen Fall mehr missen möchten. Wir fuhren bei
strahlendem Herbstsonnenschein in einem Hop-on-hop-off-Bus durch London und
wurden so auch gleich noch Zeugen einer der größten Demonstrationen, die
England in den letzten Jahren gesehen haben dürfte. 670.000 Leute protestierten
gegen den Brexit und für eine zweite Volksabstimmung, da sich die
Konstellationen nun, da sich abzeichnet, welche Folgen der EU-Austritt für
Großbritannien haben wird, deutlich zugunsten der Brexit-Gegner verändert
haben. An den verschiedensten Orten sahen wir Straßenkünstler jeglicher
Couleur, und ich hatte am Trafalgar Square die Gelegenheit festzustellen, wie
unterschiedlich ein und derselbe Platz zu den einzelnen
Tageszeiten wirken kann. 13 Jahre zuvor war ich nämlich zu fast derselben
Jahreszeit in London gewesen und, wie sich nun herausstellte, mit demselben
Busunternehmen durch die Stadt gefahren. Von der damaligen Begegnung mit diesem
Platz hatte ich nur in Erinnerung, dass er viel befahren war und die berühmte
Säule in der Mitte steht, auf der Admiral Nelson mit vier Löwen zu seinen Füßen
geradezu Hof hält.
Diesmal liefen wir an einem lauen Samstagabend über den
Trafalgar Square, und für mich war es faszinierend zu spüren, wie anders die
Atmosphäre im Vergleich zu damals war. Die Springbrunnen und der Platz waren
bunt erleuchtet, hier und da saßen Pärchen, und die Vielfalt an
Straßenkünstlern war kaum zu überbieten. Einer von ihnen hatte den ganzen Tag
über alles, was ihn bewegte, fein säuberlich in Großbuchstaben mit Kreide aufs
Pflaster geschrieben, sodass man zur musikalischen Untermalung eines in der Nähe
stehenden Gitarristen gleich noch eine Lesestunde einlegen konnte. Am nächsten Tag waren wir wieder mit dem Bus unterwegs -
diesmal deutlich erfolgreicher, denn tags zuvor hatten die Erklärungen im
Wesentlichen daraus bestanden, uns mitzuteilen, welche Haltepunkte der Bus
nicht anfahren konnte, weil die entsprechenden Straßen aufgrund der
Demonstration gesperrt waren. Nun aber sahen wir das St. Thomas‘ Hospital,
indem Florence Nightingale die Schule für Krankenschwestern gegründet hatte,
und das Hauptquartier von Scotland Yard. Vor diesem Gebäude dreht sich ein
Würfel mit dem Scotland-Yard-Logo, der jedoch für 24 Stunden stillsteht, wenn
ein Polizist im Dienst ums Leben gekommen ist, was zum Glück sehr selten
passiert.
Am Hotel Park Plaza erfuhren wir, dass auch andere
Hauptstädte mitunter Planungsschwierigkeiten haben - oder vielmehr
Schwierigkeiten bei der Ausführung der Pläne. So sollte dieses Hotel zu den
Olympischen Spielen 2012 eröffnet werden, wurde aber aufgrund einer „Reihe von
Verzögerungen“, wie es so schön hieß, erst zu den Paralympics fertig.
Doch auch mit den Dingen des alltäglichen Lebens wurden wir
hier und da konfrontiert. So hatte ich von meinem letzten Aufenthalt noch die
Fülle höchst origineller Postkarten in Erinnerung, die man an jedem Kiosk
kaufen konnte. Als ich nun eine bestimmte Karte suchte, musste ich feststellen,
dass die meisten Souvenirstände nicht einmal mehr Postkarten verkaufen - und
wenn, dann nur in sehr geringem Umfang. Als ich den Verkäufer, bei dem ich
letztendlich doch noch zwei erstand, nach dem Grund fragte, meinte er, das
Porto sei wohl zu teuer, und deshalb würden die Touristen erst recht
WhatsApp-Nachrichten und Handy-Fotos vorziehen. So ist wohl eine meiner
liebsten Urlaubsbeschäftigungen inzwischen vom Aussterben bedroht. Nach zwei sehr intensiv verlebten Tagen beschlossen wir
unseren Aufenthalt am Sonntagabend in einem typisch englischen Pub, und für
mich hatte es fast schon Symbolwert, dass mein letztes Foto ausgerechnet einen
Punk zeigt, der einen der am besten gepflegten Irokesenschnitte hatte, die ich
je gesehen habe, und in Uniform und höchst seriös in Diensten der Stadt London
in der U-Bahn arbeitet. Schließlich waren die Punks in meiner frühesten Jugend
etwas, das man gedanklich unweigerlich mit England verband.
Inzwischen sind wir alle mitsamt der Katze wieder in
heimischen Gefilden, und auch der Sonnenbrand, den ich mir bei den Fahrten im
Cabrio-Bus geholt hatte, ist längst abgeklungen. Die Erinnerungen an dieses
aufregende Wochenende aber werden bleiben, und keiner der Beteiligten hat es
bereut, dass wir die weite Strecke und insgesamt knapp 30 Stunden Fahrt auf uns
genommen haben, um all das zu erleben.