Große Häupter, kleine
Helden
Große Nationen haben den Drang, große Denkmäler zu bauen.
Oder viele. Oder beides. Letzteres kann man in der englischen Hauptstadt
allerorten beobachten, und selbst in den lange zurückliegenden Englischstunden
meiner Schulzeit war Nelson’s Column, die berühmte Nelsonsäule auf dem
Trafalgar Square, bereits ein Thema. Doch auch sonst sieht man im Stadtbild
immer wieder überlebensgroße Skulpturen mehr oder weniger berühmter
Persönlichkeiten. Viele von ihnen dürften nur den Briten selbst oder zumindest
profunden Kennern ihrer Geschichte bekannt sein, bei anderen habe ich mich
regelrecht gefreut, sie in Bronze verewigt an äußerst prominenter Stelle zu
sehen. So trifft man auf dem Parliament Square, direkt gegenüber dem
Parlamentsgebäude, nicht nur auf Winston Churchill und viele seiner Vorgänger,
sondern inzwischen zum Glück auch auf Mahatma Gandhi und Nelson Mandela. Die
erst kürzlich, im April 2018, nach heftigen Diskussionen eingeweihte
Millicent-Fawcett-Statue war für mich ein Grund, mich erst einmal zu belesen,
wer Millicent Garrett Fawcett eigentlich war. Nun, da ich es weiß, finde ich,
dass eine der führenden Suffragetten es durchaus verdient hat, die erste Frau
unter den vielen Männern des Platzes zu sein. Mögen im Laufe der Zeit noch
viele weitere hinzukommen! (Immerhin steht allein diese Statue schon
stellvertretend für 55 andere Frauen und vier Männer, die sich für das
Frauenwahlrecht eingesetzt haben und deren Namen und Konterfeis auf dem
Denkmalsockel zu sehen sind.)
Ein anderes Denkmal hat mich bereits bei meinem ersten
London-Aufenthalt sehr beeindruckt hat und so wollte ich es mir auch in diesem
Jahr unbedingt noch einmal ansehen, weil es den Krieg aus
einer gänzlich anderen Perspektive darstellt. Es befindet sich in der Nähe des
Marble Arch und heißt „Animals in War“. Die Inschrift in der großen Steinplatte
macht deutlich, worum es dabei geht: „Dieses Denkmal ist allen Tieren gewidmet,
die im Laufe der Zeit auf der Seite der britischen und alliierten Streitkräfte
in Kriegen und Auseinandersetzungen gedient haben und gestorben sind.“ Die
Protagonisten des Denkmals sind ein Pferd, ein Hund und zwei Esel als
Lasttiere. Mehr noch als die große Inschrift sagt für mein Empfinden jedoch
eine kürzere aus, die auf den ersten Blick etwas abseits steht, für mich jedoch
die eigentliche Quintessenz dieses Mahnmals darstellt: „Sie hatten keine Wahl.“
Als ich zum ersten Mal in einem Bus an diesem Ort vorbeikam und die Erklärung
dazu hörte, ging mir auf, dass ich bisher bei allen Gedanken an Krieg und Leid
immer nur die Menschen im Blick hatte. Da ich fürchte, dass das vielen so geht,
finde ich es umso wichtiger, auch einmal darzustellen, dass das Leid, das so
eine Katastrophe in sich birgt, eben nicht auf eine Spezies beschränkt ist,
sondern auch Lebewesen trifft, die vollkommen unschuldig daran sind.
Doch wer sich für Denkmäler, Skulpturen und Gedenktafeln
interessiert, findet in London noch weit mehr zu entdecken. Hier wird nämlich
nicht nur an reale Personen erinnert, auch fiktive Figuren haben durchaus ihren
Platz im Stadtbild gefunden. Wer würde, wenn er den Namen „Baker Street“ hört,
nicht unweigerlich an Sherlock Holmes denken?! Natürlich hat auch er seine
eigene Skulptur bekommen, die man mit Hilfe einer Handy-App sogar dazu bringen
kann, mehr über den berühmten Detektiv zu erzählen. Und nicht nur das: An der
Baker Street 221b ist auch eine jener blauen Plaketten angebracht, die überall
in London an Häuserwänden auf berühmte ehemalige Bewohner hinweisen und die nur
auf Initiative des Bürgermeisters und mit Zustimmung des jeweiligen
Hauseigentümers angebracht werden. Grundvoraussetzung dafür ist eigentlich,
dass die geehrte Person entweder vor mehr als hundert Jahren geboren wurde oder
schon mehr als zwanzig Jahre tot ist. Wie man das bei dem Mann, von dem selbst
in seinem Museum berichtet wird, dass er „nie gelebt hat und dennoch
unsterblich ist“, herausgefunden hat, wird wohl auf ewig eines seiner
Geheimnisse bleiben.
Auch die Helden wesentlich jüngerer Leser findet man in
dieser Stadt geradezu allerorten. Am Bahnhof Paddington hat der nach ihm
benannte Bär, unter der Uhr am Bahnsteig 1 eine Heimstatt gefunden, und auf
einer Bank daneben kann man sich sogar mit ihm fotografieren. Diese Fotos sind
vergleichsweise einfach zu bekommen, was man jedoch erst zu schätzen weiß, wenn
man dasselbe schon einmal am berühmten Zugang zum Gleis 9 3/4 des Bahnhofs
King’s Cross versucht hat. Hier zeigt sich nämlich, dass Fotos auch ohne eine
Nachbearbeitung mit Photoshop & Co. die Wahrheit geradezu verschleiern
können. Auf den Urlaubsbildern von Freunden habe ich durchaus schon den einen
oder anderen an dieser Aufschrift und dem dazugehörigen Gepäcktrolley posieren
sehen. Es wirkte immer so, als wären sie einfach dorthin gegangen, hätten das
Foto gemacht - und fertig. Die Wirklichkeit sieht jedoch etwas anders aus. Was
diese Bilder nicht zeigen, ist nämlich die Schlange derer, die so ein Foto
haben möchten, vor der Aufschrift. Sie wird von extra Ordnern beaufsichtigt,
weil man des Ansturms der Harry-Potter-Fans aus aller Welt sonst gar nicht Herr
werden würde, und es gibt sogar Servicekräfte, die einem, wenn man endlich an
der Reihe ist, den charakteristischen Schal umlegen und mit geübten Handgriffen
dafür sorgen, dass er für das Foto auch richtig flattert. Allerdings sollte man
für all das schon eine gehörige Wartezeit einplanen.