- Literatur - Reiseblog

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Italien
 
 
60 Stunden sind ein Anfang

 
Kann man eine Stadt in drei Tagen kennenlernen? Wahrscheinlich nicht, und erst recht nicht die zweitgrößte Stadt eines Landes. Mailand empfing uns so, wie wir es am wenigsten erwartet hatten: einerseits mit Regen, dessen Wahrscheinlichkeit in der Vorhersage im Internet als minimal angegeben gewesen war, andererseits mit überaus eifrigen fliegenden Händlern, die uns direkt am Shuttlebus vom Flughafen zum Hauptbahnhof erwarteten, um bunte Regenschirme an den Mann oder die Frau zu bringen. Das Gute an dem Regen war allerdings, dass dadurch der uns von unserer Gastgeberin angedrohte Nebel ausblieb und das Erste, was wir im Stadtzentrum zu sehen bekamen, ein völlig ungetrübter Blick auf den berühmten Mailänder Dom war. Was hatte ich nicht schon alles darüber gelesen: die drittgrößte Kirche der Welt nach dem Petersdom und der Kathedrale von Sevilla und gleichzeitig der weltgrößte Marmorbau. Tatsächlich wurde dieser erste Eindruck von der Frontseite des Domes, die erst auf Befehl Napoleons vollendet wurde, der sich 1805 zum König von Italien krönen ließ, sämtlichen Erwartungen gerecht. Der Anblick ist so imposant, dass man all die anderen Gebäude, die den Domplatz säumen, wie etwa den alten Königspalast, in dem jetzt das Dommuseum untergebracht ist, und das Museo del Novecento, das Museum für Kunst des 20. Jahrhunderts, ebenso erst an zweiter Stelle wahrnimmt wie die Galleria Vittorio Emanuele II. All diese Bauwerke sind durchaus eine intensivere Betrachtung wert, doch das hoben wir uns für später auf.

 
Zunächst flüchteten wir vor dem Regen in ein Café, in dem man dem Bäcker durch eine große Glasscheibe beim Backen zusehen kann, und genossen den ersten echt italienischen Cappuccino dieser Reise, dem jedoch noch unzählige folgen sollten. Hatte mich auch der Reiseführer, den ich zur Vorbereitung gelesen hatte, bereits vor dem Preisunterschied zwischen stehend und sitzend genossenen Getränken gewarnt, der in Italien durchaus üblich ist, war das „Stehen“ zumindest hier jedoch eher relativ. Wir bezahlten zwar den deutlich geringeren Preis für den Kaffee, was einen normalerweise dazu verpflichtet, am Verkaufstresen stehen zu bleiben, zu trinken und dann auch ziemlich schnell wieder zu gehen, doch konnten wir es uns hier an einem Tisch mit Bänken in der Höhe von Barhockern „gemütlich“ machen und so ein bisschen länger verweilen und das Ambiente (einschließlich der Backwaren und unterschiedlichen Kaffeezubereitungen) genießen.

 
Als wir anschließend auf den Domplatz zurückkehrten, hatte sich der Regen verzogen, und auch die mehr als zahlreich vorhandenen Tauben machten keinen ganz so nassen Eindruck mehr. Wir beschlossen, den Besuch des Domes noch ein wenig hinauszuschieben und uns erst einmal einen Überblick über all das zu verschaffen, was wir in der kurzen Zeit in Mailand sehen wollten, und brachen auf zu einer ersten Erkundungstour. Dafür kam uns die Straßenbahn gerade recht. Die Metro ist zwar in Mailand wie überall das schnellste Verkehrsmittel, doch das Tramnetz ist in der Stadt ausgesprochen gut ausgebaut, und so hat man den Vorteil, gleichzeitig noch dies und das zu sehen, was man sonst im Stadtbild vielleicht nicht wahrnehmen würde – wie etwa zwei große bunte Skulpturen an der Piazzale Cadorna, die auf der einen Straßenseite eine Nähnadel mit einem bunten Faden und auf der anderen Straßenseite einen Knoten zeigen. Diese Hommage der Künstler Claes Oldenburg und Coosje van Bruggen an Mailand als Modestadt wurde im Jahr 2000 eingeweiht, und wären wir nicht genau an dieser Stelle von der Metro in die Tram umgestiegen, hätten wir das fröhliche Monument möglicherweise verpasst.

 
Die erste größere Sehenswürdigkeit, die an diesem Tag noch auf unserem Besuchsprogramm stand, war das Mailänder Stadtschloss Castello Sforzesco, das im 15. Jahrhundert erbaut wurde und nur bis 1535 als Herrschaftssitz diente. Danach hatte es eine rein militärische Bedeutung. Mich interessierte dieses Schloss besonders, weil es heißt, es habe als Vorbild für den Moskauer Kreml gedient, was aufgrund seiner Bauzeit und der Tatsache, dass in Russland viele italienische Baumeister tätig waren, auch gar nicht abwegig ist. Geht man allerdings von den weißen Kreml-Kathedralen mit ihren goldenen Kuppeln aus, erschließen sich die Parallelen zwischen Mailand und Moskau erst auf den zweiten Blick. Unübersehbar sind zwar die rote Backsteinmauer und die verschiedenen Türme, doch die Gemeinsamkeit, die in meinen Augen die prägnanteste ist, sind die sogenannten Schwalbenschwanzzinnen, die sowohl den oberen Abschluss Kremlmauer als auch der des Castello Sforzesco bilden. Auch finden sich auf dem einen wie dem anderen Gelände Kanonenkugeln – in Moskau aus Eisen, in Mailand aus Stein –, doch diese Eigenschaft dürften beide wohl mit vielen Burgen jener Zeit gemeinsam haben. Bei einem Spaziergang durch den Schlosspark wurde uns deutlich bewusst, dass wir uns im Süden befanden: Die mittlerweile untergehende Sonne des späten Nachmittags bescherte uns eine herbstliche Atmosphäre, die man bei uns nur etwa vier Wochen früher im Jahr erleben kann.

 
Vieles sollten wir an den folgenden Tagen noch erfahren und zu sehen bekommen – von kleinen und größeren Kirchen über Einkaufspassagen, das Künstlerviertel Brera und den Platz vor der berühmten Scala bis hin zu einem Geschäft, in dem die berühmten italienischen Kaffeekocher verkauft werden, die längst zu Klassikern geworden sind (was man von der dort ebenfalls angebotenen knallroten Weihnachtsedition wohl nicht behaupten kann). Die Ahnung, die mich schon beim ersten Betreten des Domplatzes beschlichen hatte, sollte sich immer wieder bestätigen: Drei Tage sind viel zu kurz, um eine Kulturmetropole wie Mailand richtig kennenzulernen. Die Stadt hat so viele große und auch kleine Attraktionen zu bieten, dass es sich auch jeder weitere Besuch lohnt, denn man wird immer wieder etwas Neues dabei entdecken.

 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
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