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Italien
 
Der Blick der Heiligen

 
Die unzähligen Heiligenbilder, die das ganze Gebäude bedecken, die überall unter den gotischen Krondächlein hervorgucken, und oben auf allen Spitzen gepflanzt stehen, dieses steinerne Volk verwirrt einem fast die Sinne. Betrachtet man das ganze Werk etwas länger, so findet man es doch recht hübsch, kolossal niedlich, ein Spielzeug für Riesenkinder.“

 
Hätte diese Zeilen über den Mailänder Dom jemand anders als Heinrich Heine geschrieben, würde man sie ihm vermutlich übelnehmen und ihn als Banausen beschimpfen. Bedenkt man allerdings, dass das Bauwerk allein außen ungefähr 3400 Figuren in Form von Skulpturen und Reliefs aufweist, ist zumindest die Verwirrung nachvollziehbar, die „das steinerne Volk“ stiftet. Was gibt es da nicht alles zu sehen - von Adam und Eva über Daniel in der Löwengrube bis hin zum Turm von Babel. Da diese Geschichte sozusagen die Geburtslegende des Berufsstandes der Dolmetscher und Übersetzer verkörpert, freute ich mich natürlich besonders, sie an so prominenter Stelle zu finden.

 
Die große Attraktion des Domes, die auch schon mehrfach als Filmkulisse genutzt wurde und wahrscheinlich zumindest jedes zweite Titelfoto von Mailand-Reiseführern ziert, ist die Dachterrasse, die man entweder mit einem Aufzug oder durch das Erklimmen von etwa 200 Steinstufen erreicht. Welchen Weg man auch wählt - es lohnt sich in jedem Fall! Man muss nur im wahrsten Sinne des Wortes standfest sein, da der Dom ein Satteldach hat und die Fläche der Schrägen, auf denen man so balanciert deutlich größer ist als die geraden Wege in der Mitte und an den Seiten, unmittelbar am Fuße des riesigen Geländers aus Stein, bei dem sogar die vielen Kreuze jeweils völlig unterschiedliche Verzierungen aufweisen. Allerdings sollte man gewahr sein, dass es vermutlich keinen Zeitraum im Jahr gibt, in dem am Dom nicht irgendwo gebaut wird. Wir hatten Glück, denn es war nur eine kleine, an die Terrasse grenzende Fassade angerüstet.

 
Auch in anderer Hinsicht war uns Fortuna hold: Das Wetter hätte nicht besser sein können. Bei strahlendem Sonnenschein hatten wir freie Sicht bis zu den Alpen, und mir kam der Gedanke, wie schön es doch war, Mailand dieses eine Mal quasi aus dem Blickwinkel der Heiligen betrachten zu können, deren es so viele auch auf dem Dach des Domes gibt. Ihnen bleibt eigentlich nichts verborgen: Sie schauen in schmale Straßen, aber auch über den imposanten Domplatz, sie können beobachten, wie lang die Schlange der Wartenden ist, die unbedingt ins Innere des Gotteshauses vordringen wollen. Weiter entfernt bietet sich Steinheiligen wie Besuchern die Aussicht auf die Skyline des neuen Mailand, dessen Hochhäuser sich in der Nähe des Bahnhofs Porta Garibaldi befinden. Eines dieser Hochhäuser war mir bereits im Vorfeld der Reise im Internet aufgefallen, denn seine Balkons sind so üppig begrünt, dass man nicht nur von vertikalen Gärten, sondern sogar von einem „vertikalen Wald“ spricht.

 
Am nächsten Tag, der auch schon der letzte unseres Mailand-Aufenthaltes war, gelang es mir endlich, mir auch das Innere des Domes anzusehen. Die großen Mittelbereiche waren zwar gesperrt, weil gerade eine Messe lief, doch das tat der Besichtigung keinen Abbruch, im Gegenteil. Auch hier gibt es Heilige in luftiger Höhe - jede der Säulen weist als Kapitel gotisch anmutende Nischen auf, aus denen wiederum Statuen auf die Besucher herabblicken.

 
Ein letztes Mal kamen mir die Heilgen in den Sinn, als wir auf dem Domplatz einen riesigen Menschenauflauf wahrnahmen, der offensichtlich nichts mit den sonst ständig vorhandenen Warteschlangen unterschiedlichster Länge für Besichtigungen aller Art zu tun hatte. Auch die Blickrichtung der von Zeit zu Zeit kreischenden Teenager hatte überhaupt nichts mit der altehrwürdigen Kathedrale zu tun, sondern war zu ihr genau um neunzig Grad versetzt. Eine Nachfrage ergab, dass in dem großen Multimedialaden, der an das Museo del Novecento grenzt, eine Buchvorstellung stattfand. Wer hätte gedacht, dass man damit heutzutage noch solche Menschenmasse mobilisieren kann?! Zwei Youtuber, die offensichtlich Stars der Szene sind, waren gekommen, um ihr Buch zu signieren und sich von ihren Fans feiern zu lassen.

 
Mit dem Blick auf diese Spektakel der modernen Kultur sind also auch die Heiligen des Doms gezwungen, mit der Zeit zu gehen, und wer weiß, vielleicht sind sie ja so fortschrittlich, dass ihnen gefällt, was sie da sehen?

 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
 
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