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Polen
 
 
Entdeckungen am Oderhaff

 
In der Schule war es uns verboten, „Stettin“ zu sagen. Wie bei allen anderen polnischen Städten außer Warschau mussten wir den polnischen Namen benutzen, um uns nicht dem Vorwurf des Revanchismus ausgesetzt zu sehen. Deshalb ist es auch heute für mich noch wesentlich vertrauter, die Stadt, in die uns dieser Tagesausflug führte, „Szczecin“ zu nennen. Schon lange hatte ich vorgehabt, sie mir anzusehen, und nun hat es endlich einmal geklappt.

 
Wie gesagt, in meiner Vorstellung war Szczecin immer eine polnische Stadt, obwohl ich natürlich wusste, dass es einmal zu Deutschland gehört hatte. Wie eng diese Verflechtungen waren, ist mir aber erst jetzt richtig klargeworden. Es begann schon mit der Aufschrift am Hafentor, das früher einmal Berliner Tor geheißen hat und in dessen lateinischer Inschrift Friedrich Wilhelm von Preußen erwähnt wird. Der Sandstein für den Bau dieses Tores kam im 18. Jahrhundert aus Sachsen. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Sehenswürdigkeiten: Die Hakenterrasse, eines der Wahrzeichen der Stadt, wurde nach Hermann Haken benannt, der fast dreißig Jahre lang, von 1878 bis 1907, die Geschicke der Stadt als Oberbürgermeister lenkte.

 
Viele Parallelen zu deutschen Städten finden sich hier bis heute: So gibt es zum Beispiel sogar ein Rotes Rathaus, das in Reiseführern und anderen Nachschlagewerken zwar als „Neues Rathaus“ geführt wird, auf den Wegweisern in der Stadt selbst aber immer wieder als „Rotes Rathaus“ auftaucht. Doch der Name ist nicht die einzige Parallele zu seinem Berliner Pendant. Die Entstehungszeit beider in der Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts differiert nur um wenige Jahre, und hüben wie drüben ziert den Platz vor dem Rathaus ein Brunnen mit maritimem Bezug, wenn auch der Stettiner Manzelbrunnen nicht mehr in seiner ursprünglichen Gestalt zu bewundern ist. Bis zum Zweiten Weltkrieg stand auf dem Brunnensockel nämlich in Bronze gegossen in einem Boot Sedina, die allegorische Figur der Stadt Stettin. Das Boot wurde von mehreren Göttern geschoben, und Sedinas rechte Hand ruhte auf dem oberen Teil eines Ankers. Die Bronzeelemente sind während des Krieges verschwunden, und heute krönt nur noch ein Anker das ehemals prunkvolle Ensemble.

 
Doch auch an andere europäische Gegenden fühlte ich mich beim Gang durch die Stadt durchaus erinnert, wenngleich das sicher nur meine ganz persönlichen Parallelen sind. So habe ich eine lange Treppe, die terrassenförmig zu einem Flussufer hinunter führt, in Wolgograd gesehen und musste unweigerlich daran denken, als ich an der Hakenterrasse zur Oder hinabgestiegen bin.

 
Das Verwaltungsgebäude der Woiwodschaft Westpommern mutete für mich wie eines der dänischen Königsschlösser an, die ebenfalls aus Backsteinen mit weißen Verzierungen gebaut und mit vielen kleineren und größeren Türmen geschmückt sind. Da wird die geografische Nähe zu Skandinavien meines Erachtens auch architektonisch deutlich. Parallelen zu Städten an der deutschen Ostseeküste sind natürlich ebenfalls nicht zu übersehen. Obwohl das Stralsunder Rathaus wesentlich größer ist als das Alte Rathaus von Stettin, findet man doch auch hier sehr ähnliche Elemente wie den Backsteingiebel, der so durchbrochen ist, dass bisweilen die Sonne durch die Spitzen hindurchscheint.

 
Die Renaissancegebäude am Heumarkt hingegen haben mich eher an viele Plätze in Tschechien erinnert, unverkennbar mit ihren bunten Stufengiebeln, selbst wenn der Platz selbst im Moment eine einzige große Baustelle ist. Damit steht er aber nicht allein, denn im Schloss der Pommerschen Herzöge ist der Innenhof gleichfalls teilweise abgesperrt und das Museum derzeit nicht begehbar. Dafür kehrten wir im Restaurant „Na Kuncu Korytarza“ ein, das 2011 zu einem der besten an der gesamten Ostseeküste gekürt wurde. Auch wenn die Zeit bei uns nur für einen Eisbecher reichte, sprach allein die Tatsache, dass es sich genau genommen nicht um einen Becher, sondern um eine kleine Porzellanbadewanne handelte, in der das Eis serviert wurde, schon für die Originalität des Etablissements. Das Interieur des alten Gewölbes tat ein Übriges.

 
Immerhin ist trotz der Umbauarbeiten die im Schloss befindliche Oper in Betrieb. Für Donizettis „Liebestrank“ und Webbers „Requiem“ war es zwar die falsche Tageszeit, aber immerhin konnten wir uns so davon überzeugen, dass im modernen Szczecin durchaus an ungewöhnlichen Orten Theater gespielt wird. Das erste Beispiel hatten wir schon vorher gesehen, denn das bereits erwähnte Hafentor beherbergt inzwischen ein Kammertheater.

 
Das eindrucksvollste Beispiel deutsch-polnischer Geschichte war für mich allerdings die Jakobskathedrale. Im Krieg schwer zerstört, verfügt der spätgotische Hallenbau seit 2007 wieder über einen Turmhelm, der mit einer Höhe von 112 Metern weithin sichtbar ist. Auch die Konfession, zu der die Kirche gehört, hat mehrfach gewechselt. Erbaut in mehreren Phasen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, war sie zunächst katholisch, dann von 1534 bis 1945 evangelisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie von der polnischen katholischen Kriche übernommen und instandgesetzt. Heute ist sie die Kathedralkirche des Erzbistums Stettin-Cammin.

 
Nachdem wir festgestellt hatten, dass es auch in dieser Gegend einen Jakobsweg gibt, den Pommerschen Jakobsweg, der durch Litauen, das zu Russland gehörende Kaliningrader Gebiet, Polen und Deutschland verläuft, fanden wir im Inneren der Kathedrale natürlich eine Statue des heiligen Jacobus mit der Jakobsmuschel, die überall auf diesem Weg Pilgern als Symbol und Erkennungszeichen dient. Dennoch hat mich das Interieur der Kirche aus ganz anderen Gründen zutiefst beeindruckt.

 
In mehr als einem Dutzend Seitenkapellen erfährt man hier so viel über die polnische Geschichte, als würde man ein Geschichtsbuch lesen. Natürlich sind die meisten dieser Kapellen den traditionellen Heiligen geweiht. Auf den zweiten Blick erkennt man jedoch, dass damit häufig auch wichtige Kapitel der jüngeren Vergangenheit verknüpft wurden. Wenn man durch die Kathedrale geht, trifft man immer wieder auf historische Objekte wie Barockengel oder Flügelaltäre, eine Abbildung der Gottesmutter von Tschenstochau und natürlich ein Bildnis Papst Johannes Pauls II., der Szczecin 1987 besucht hat.

 
Einige der Seitenkapellen sind Berufsgruppen gewidmet, wie etwa die Kapelle der Hl. Katharina den Eisenbahnern und die Kapelle mit einer Darstellung der Stella Maris, der Maria Meeresstern, den Seeleuten. An der Seite dieser Kapelle findet sich einer der bereits erwähnten Bezüge zur jüngeren Vergangenheit, eine Glocke mit dem Logo der Gewerkschaft Solidarność, die, aus der Streikbewegung von 1980 hervorgegangen, eine wesentliche Rolle bei der politischen Wende in Polen 1989 spielte.

 
In der Kapelle für die Hafenarbeiter gab es außer einem Holzrelief der Fischhändlergilde von 1683, das die Gottesmutter mit dem Kind zeigt, für mich den ersten Anhaltspunkt, um mich noch einmal genauer mit der polnischen Geschichte zu befassen. Eine Inschrift auf den Glasfenstern erinnert an die im Dezember 1970 Getöteten. Damals fanden in verschiedenen polnischen Großstädten, unter anderem auch in Szczecin, Streiks und Demonstrationen statt, bei deren blutiger Niederschlagung nach offiziellen Angaben 45 Menschen getötet wurden. Der historische rote Faden der Kapelle wird weitergeführt durch ein Kreuz und die daneben befindliche Gedenktafel, die darauf hinweist, dass sich dieses Kreuz im August 1980, also während der nächsten großen Streikwelle, in der Hafenverwaltung befunden hat.

 
Die benachbarte Kapelle fällt schon dadurch auf, dass sie durch ein Stacheldrahtgitter vom Seitenschiff abgetrennt ist. Sie ist dem von der katholischen Kirche als Heiligen verehrten Maximilian Kolbe geweiht, einem Priester, der im Widerstand gegen die Nazis tätig gewesen und jüdischen und anderen Flüchtlingen Zuflucht gewährt hatte. Er ging in Auschwitz für einen anderen Häftling in den Hungerbunker und wurde im August 1941 ermordet. Auch wenn einige seiner Positionen bis heute offenbar nicht unumstritten sind, wird er von verschiedenen christlichen Konfessionen verehrt und ist beispielsweise auch am Westportal der Westminster Abbey als Märtyrer des 20. Jahrhunderts abgebildet. In Szczecin steht er stellvertretend für die Opfer der Konzentrationslager, und an der einen Wand der Kapelle sind die Namen der KZ aufgeführt, an der anderen symbolisch die Häftlingskleidung mit dem roten Winkel der politischen Gefangenen dargestellt.

 
Bei einer anderen Kapelle habe ich zunächst gestutzt, als ich die Inschrift am Geländer sah: „Kaplica Sybiraków“ - „Kapelle der Sibirier“. Dass sie ebenfalls einen historischen Bezug hat, ist ebenso klar wie die Tatsache, dass dieser mit dem anderen großen Spannungsfeld der polnischen Geschichte zusammenhängt, dem Verhältnis zu Russland bzw. der Sowjetunion. Nach und nach bin ich dann auch dahintergekommen, dass diese Kapelle, eigentlich der göttlichen Barmherzigkeit geweiht, den nach Sibirien deportierten Polen gewidmet ist. Derartige Deportationen hat es in der polnischen Geschichte immer wieder gegeben, angefangen von den Aufständen der Jahre 1830 von 1863 bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. So gab es nach der Angliederung des Westukraine und des Westens Weißrusslands an die Sowjetunion infolge des Hitler-Stalin-Paktes vier große Deportationswellen polnischer Bürger nach Sibirien, aber auch in den hohen Norden und nach Zentralasien. Schon die konservativsten Berechnungen gehen von weit über 300.000 Deportierten aus. Diese Kapelle wurde von der Westpommerschen Vereinigung der Sibirier gestiftet, einer Organisation von Personen, die als politische Gefangene, Kriegsgefangene oder anderweitig Internierte in der Sowjetunion waren. Auch an das Massaker von Katyń 1940 wird an dieser Stelle erinnert.

 
Die der heiligen Barbara und dem heiligen Georg geweihte Kapelle erinnert an die Armia Krajowa, die polnische Heimatarmee im Zweiten Weltkrieg, und den Warschauer Aufstand, als deren Schutzpatronen die beiden Heiligen gelten. Gleichzeitig findet man hier aber auch eine der der schönsten spätgotischen Skulpturen Pommerns, die Pieta von Lubniewice aus dem 15. Jahrhundert.

 
Allein diese Kirche greift so viele Themen auf, von denen jedes einzelne eine komplette Geschichtsvorlesung füllen könnte, dass ich all das anschließend für mich erst einmal gedanklich ordnen musste. Das geht übrigens wunderbar bei einem Spaziergang am Oderufer, das mit seinen vielen Schiffen und dem Hafen auch gleich noch ein wenig Fernweh aufkommen lässt. Mit Sicherheit kann man Szczecin mit einem einzigen Tagesausflug nicht gerecht werden. Für mich hat er aber ausgereicht, um festzustellen, wie vielschichtig diese Stadt ist und dass ich sie unbedingt noch genauer kennenlernen möchte.

 
 
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