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Polen
Mit dem Kulturzug nach Wrocław

Im Jahre 2016 war Wrocław europäische Kulturhauptstadt. Abgesehen von der gestiegenen Aufmerksamkeit für die niederschlesische Metropole ist noch etwas aus dieser Zeit geblieben: der Kulturzug Berlin-Breslau der Deutschen Bahn. Er fährt regelmäßig an den Wochenenden und verbindet beide Städte zu einem sehr moderaten Preis und in einer sehr vertretbaren Fahrzeit miteinander. Was läge also näher, als sich Tickets zu kaufen und das Ganze einmal auszuprobieren, wenn man ohnehin Lust auf einen Abstecher nach Polen hat?

Es ist ein sonniger Samstagmorgen im Oktober, und auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg könnte man sich fragen, warum man für diesen Zug eigentlich eine Reservierung benötigt. Am nächsten Haltepunkt, Berlin-Ostkreuz, wird das schon wesentlich klarer, obwohl sich immer noch die Frage stellt, warum das Kulturprogramm nur im ersten Wagen stattfindet, wenn es doch ein ganzer KulturZUG sein soll.

Auffällig sind die bunten Wählscheiben-Telefone, die in den Viererabteilen des Wagens stehen. Wofür sie benötigt werden, soll sich später noch herausstellen. Zunächst ertönt eine Durchsage, die die Fahrgäste begrüßt und darauf hinweist, dass es im Zug auch eine Bibliothek gibt, in der man sich für die Dauer der Fahrt Bücher über Wrocław ausleihen kann.

Ein Quiz in deutscher und polnischer Sprache bezieht sich auf die beiden Städte, zwischen denen der Zug verkehrt. Es macht Spaß zu versuchen, in beiden Sprachen auf das richtige Lösungswort zu kommen, und am Ende erhält ein Gewinner ein Buch über Wrocław.

Die Idee, die den Telefonen zugrunde liegt, ist ein wenig gewöhnungsbedürftig und, soweit ich es verstanden habe, keineswegs allgemeingültig, weil das Programm immer wieder wechselt. Diesmal sollen sich die Menschen, die in den Viererabteilen sitzen (wer, ohne das zu wissen, einen anderen Platz reserviert hat, kann entweder nicht mitmachen oder muss sich, falls Plätze frei sind, umsetzen), vier Sätze für eine imaginäre Rede zu einem bestimmten Thema überlegen, aus denen dann eine Rede des gesamten Kulturzuges zusammengeschustert und am Ende vorgetragen wird.

Die Telefone funktionieren wie Tischtelefone und sollen dazu dienen, sich mit anderen Fahrgästen zu vernetzen, denn es gibt Abteile mit Redenschreibern und mit Rednern. Unsere Anrufversuche bleiben unbeantwortet, deshalb kann ich nicht sagen, welche Aufgaben die Redner gehabt hätten, und es erschließt sich auch später nicht. Da ich mich zu einer anderen Gruppe setzen musste, in der noch ein Platz frei war, ist es auch mit der Teamarbeit etwas schwierig, und letztendlich schreibt jeder von uns einen Satz in der Hoffnung, dass das Ganze am Ende einen größeren Sinn ergibt.

Irgendwann werden die Klemmbretter mit den Redebeiträgen wieder eingesammelt und die Rede des Kulturzuges in einem „Schreibraum“, also einem abgetrennten Abteil von der Veranstalterin dieses Spiels, einer Doktorandin der Kulturwissenschaften, zusammengeschrieben. Alle einzelnen Zettel werden an einer Wäscheleine aufgehängt und zum Schluss alle, die mitgemacht haben und sich die fertige Rede anhören möchten, auf einen Plastikbecher Sekt in dieses Abteil gebeten.

Da nun noch einmal gefragt wird, wer sich bereit erklärt, diese Rede vorzulesen, bleibt die Frage, was die „Redner“ aus den drei dafür bestimmten Viererabteilen für eine Funktion gehabt hätten, tatsächlich unbeantwortet. Die Rede ist ganz nett und enthält wirklich Elemente aus jedem der abgegebenen Zettel, aber ich werde dennoch das Gefühl nicht los, dass ich die Schreibaufgaben, die noch von der letzten Fahrt in einigen Abteilen hingen, lieber gehabt hätte. Da hätte man nämlich gemeinsam an einer Seifenoper über eine zwischen Deutschland und Polen geteilte Stadt schreiben können.

Ich tröste mich mit der Aussicht auf die Rückfahrt, auch wenn mich die Tatsache etwas stutzen lässt, dass es in Berlin nicht möglich war, einen Platz dafür zu reservieren, und wir in Wrocław gesagt bekommen, für diesen Zug ginge das nur in Deutschland. Die Frage, ob man nur mit einer Platzreservierung in den Genuss des Kulturprogramms kommt, stellt sich bei der Heimfahrt am Sonntagabend gar nicht mehr, weil alle Wagen so voll sind, dass es völlig illusorisch wäre, hier etwas Derartiges veranstalten zu wollen. Auch andere Reisende bestätigen, dass es das Kulturprogramm nur auf der Fahrt von Berlin nach Wrocław gibt.

Insgesamt finde ich, dass der Kulturzug, wenn er denn als solcher läuft und bespielt wird, eine wirklich gute Sache ist, um sich auf das jeweilige Reiseziel einzustimmen. Die jeweilige Ausführung ist sicher Geschmackssache und von Fahrt zu Fahrt unterschiedlich. Schade ist nur, wenn der Zug auf der Rückfahrt zu einem ganz normalen Verkehrsmittel „verkommt“, wenn auch einem extrem günstigen, was sicher auch den Andrang erklärt. Bisher ist gesichert, dass der Kulturzug bis zum Ende des Jahres fährt, ich würde mir aber wünschen, dass seine Lebensdauer auch weiterhin verlängert wird, denn ich könnte mir vorstellen, noch einmal damit zu fahren. Sicher wäre das Konzept auch für andere Städteverbindungen eine richtig gute Idee.

 
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