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Polen
Pilze suchen in der Stadt

Schon oft bin ich auf der Suche nach bestimmten Skulpturen durch die verschiedensten Städte gelaufen. Doch nie waren die Objekte meiner fotografischen Begierde bisher so klein gewesen wie in Wrocław, dem einstigen Breslau, allerdings auch nie so zahlreich. Schon vor längerer Zeit hatte ich gehört, dass es in der schlesischen Metropole Zwerge in Hülle und Fülle geben sollte. Das leuchtete mir von Anfang an ein, weil Schlesien schließlich eine Bergbauregion war und Zwerge dort gewissermaßen die märchenhaften Ureinwohner darstellten.

Neu war mir allerdings, dass die Zwerge auch ein Symbol des Widerstandes in den 1970er- und 1980er-Jahren waren, weil die damalige Opposition sie z.B. auf Transparenten gewissermaßen als Sprachrohr benutzte. Inzwischen aber sind sie das Wahrzeichen Wrocławs und in der ganzen Stadt allgegenwärtig. Diese Aussage hört man zumindest immer wieder von anderen Wrocław-Reisenden, und auch die Tatsache, dass es inzwischen mehr als 600 dieser kleinen, in Bronze gegossenen Wesen gibt und jedes Jahr neue hinzukommen, spricht für diese These.

Allerdings ist es mitunter gar nicht so leicht, sie zu finden, wenn man sich einmal entschlossen hat, sich gezielt auf die Suche zu begeben. Wie Pilze (was von der Größe her ebenfalls fast hinkommt) verstecken sie sich - nur eben in urbaner Umgebung. Mal findet man sie in einem Hauseingang, mal ganz dicht an einer Hauswand, mal auf einem Fenstersims.)

Man kann die Suche nach ihnen wie eine Schnitzeljagd gestalten und auf diese Weise auch die Stadt als solche kennenlernen. So führten uns die Zwerge vom Hauptbahnhof über eine Einkaufspassage zunächst zum städtischen Puppentheater. Hier gibt es einen Brunnen, dessen „Bewohner“ wir zunächst gar nicht als Zwerge identifiziert haben, weil sie wesentlich größer sind als ihre Artgenossen und auch ganz anders aussehen. Ein Blick ins Zwergenlexikon verriet uns jedoch, dass es sich hierbei um Wasserzwerge handelt, und schon war die Zwergenwelt wieder in Ordnung.

Am Forum für Neue Musik fanden wir gleich ein komplettes Zwergenorchester vor, und auch der Komponist und Dirigent war nicht weit. Nach und nach führten uns die Zwerge am Königsschloss vorbei auf den Ring, den Hauptplatz des Stadtzentrums, mit den bunten alten Bürgerhäusern, dem wunderschönen gotischen Rathaus und seinem Erweiterungsbau, dem Neuen Rathaus. Natürlich gibt es hier Zwerge in Hülle und Fülle. Ob mit einem Geschenk in der Hand vor einem Souvenirgeschäft, auf einer Taube reitend auf einem Fenstersims oder als Wasserträger mit einer alten Pumpe.

Auf einem Fenstersims des Neuen Rathauses gibt es auch einen Zwerg, der zum 25. Jahrestag der Städtepartnerschaft Wrocław-Wiesbaden gestiftet wurde. Der Vorplatz der Kirche der Heiligen Elisabeth ist ebenfalls ein Tummelplatz für die kleinen Gesellen, und bei WrocLovek (viele Zwerge haben einen Namen oder zumindest eine unverwechselbare Bezeichnung wie „Schnarcher“ oder „Tourist“) oder, wie er auf Englisch und Deutsch heißt, WrocLover ist dann so gar noch ein Wortspiel dabei.

Viele kleine Gässchen lernt man auf der Suche nach dem „Gefangenen“ oder dem „Reisenden“ kennen, und auch für Weltoffenheit ist bei den Zwergen gesorgt. So gibt es direkt am Rathaus die „Invalidchen“, einen Zwerg im Rollstuhl, einen blinden und einen gehörlosen Zwerg, und anderswo die „Zwerge der Toleranz“, deren Aussehen afrikanisch anmutet.

Wenn man sich etwas mehr Zeit nimmt, führen einen die Zwerge auch in Gebäude, die zwar öffentlich zugänglich sind, normalerweise aber nicht auf dem Besichtigungsprogramm für Stippvisiten stehen. So fanden wir sehr originelle Vertreter ihrer Zunft in einem Schwimmbad, wobei sich diese kleinen Männer so gut versteckt hatten, dass wir erst nach ihnen fragen mussten (sie befinden sich nämlich nicht etwa in irgendeinem Vorraum, sondern an der Wand der Schwimmhalle selbst). Im Hotel „Mercure“ ließ man uns ebenfalls bereitwillig fotografieren - dort malt ein Zwerg sogar noch die „Dame mit dem Hermelin“ von Leonardo da Vinci zu Ende.

Unser Experiment, uns von Zwergen durch Wrocław leiten zu lassen, war also ein Erfolg auf der ganzen Linie. Wir haben außer den kleinen Zipfelmützenträgern noch vieles andere gesehen und das Stadtzentrum auf diese Weise gut kennengelernt. Dass wir weder alle Zwerge gefunden noch sämtliche Sehenswürdigkeiten besucht haben, die Wrocław zu bieten hat, spricht eindeutig dafür, dass dies nicht unser letzter Besuch dort war. Dass sich die Reise lohnt, wissen wir ja nun.

 
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