- Literatur - Reiseblog

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Reisen
 
Januar 1986

 
Ach Arbat, mein Arbat

 
Es ist ein Abend wie jeder andere. Draußen ist es schon dunkel. Soeben wurde die Straßenbeleuchtung angeschaltet. Ich stehe am Fenster und höre immer wieder das Lied vom Arbat. Auf der Straße vor unserem Haus ist alles wie sonst: ganz normaler Berufsverkehr. Ich aber bin, wenn ich dieses Lied meines Lieblingssängers Bulat Okudschawa höre, mit meinen Gedanken weit fort:

 
Ein Vierteljahr ist es jetzt her, dass ich das letzte Mal die Straße entlanggegangen bin, von der dieses Lied erzählt: den Alten Arbat in Moskau. Damals war es genauso eine Nacht wie heute: sternenklar, das Wetter mild, aber winterlich. Unsere Gruppe war bunt gemischt: sechs Jugendliche im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, drei Berliner und drei Moskauer. Wir gingen über den Arbat, unterhielten uns, sprachen über unsere Städte. Es war schon nach Mitternacht und die Straße infolgedessen verhältnismäßig menschenleer. In dieser Nacht erfuhr ich sehr viel Interessantes über die erste – und bis jetzt einzige – Fußgängerzone Moskaus, die zu den ältesten und traditionsreichsten Straßen der Stadt gehört. Es war eine besondere Zeit, zu der ich diesen Boulevard kennenlernte: Es war Nacht, und der Arbat schlief. Ich stand in der Straßenmitte und konnte einfach nicht weitergehen, so beeindruckt war ich. Die ganze Gemütlichkeit, die von Moskaus alten Straßen ausgeht, spürte ich, als wäre sie in diesem einen Boulevard vereint. Hier fühlte ich mich geborgen.

 
Viele bekannte und weniger bekannte Künstler und Dichter lebten am Arbat, der seit eh und je zum Zentrum Moskaus zählt. Viele Gemälde, Gedichte und Lieder erzählen vom Treiben auf dieser Straße:

 
„Und die Menschen von Rang ist dein Pflaster nicht gewohnt,
 
Leute haben zu tun immer eilig hier.“

 
Immer wieder geht mir dieses Lied von Bulat Okudschawa durch den Kopf. Eigentlich kann man den Arbat nicht besser beschreiben: eine kleine, auf dem Stadtplan unscheinbare Straße, die doch so typisch für Moskau ist.

 
Damals, im Oktober, wurde der Alte Arbat gerade restauriert. Zwei Drittel der gesamten Länge waren jedoch schon fertiggestellt. Ziel der Restauration war es, den Boulevard so wieder zu errichten, wie er ausgesehen hat, als Puschkin hier lebte, das heißt, am Anfang des vorigen Jahrhunderts.

 
Wir gingen diese Straße entlang, langsam, ohne Hast, und genossen die Stimmung, die jedes einzelne Haus ausstrahlt. Ich spürte: Jedes Gebäude hat seine eigene Geschichte. An einem Haus sahen wir eine Gedenktafel: „In diesem Gebäude lebte Alexander Sergejewitsch Puschkin.“ Unwillkürlich fielen mir die wunderschönen Liebesgedichte ein, von denen er einige vielleicht hier geschrieben hat. Ich war überwältigt vom Anblick dieser wunderschönen altertümlichen Straße. Es war einfach unfassbar für mich, wie herrlich solch ein kleiner Boulevard direkt neben dem Großstadtlärm, der vom Kalinin-Prospekt auch nachts herüber dringt, sein kann. Auf mich wirkte diese Atmosphäre sehr beruhigend nach einem anstrengenden Exkursionstag. Ich werde den Arbat nie vergessen. Das wurde mir in jener Nacht klar. Damals hätte ich meine Gefühle nicht ausdrücken können, weil ich völlig sprachlos war.

 
Überall am Arbat gibt es etwas zu sehen, was historisch oder literaturgeschichtlich interessant ist. Denn viele Menschen, die hier aufgewachsen waren und lebten, wurden berühmt: Puschkin, Okudschawa, Rybakow. Diese Straße kann man stundenlang hinauf- und hinuntergehen und immer noch etwas Neues dabei entdecken:

 
               „Ach Arbat, mein Arbat, so bist du, mein Vaterland,
 
               wo es doch, wie man geht, nie ein Ende gibt!“

 
Immer noch stehe ich am Fenster, und immer noch höre ich das Lied vom Arbat. Draußen hat es angefangen zu schneien. Von der Straße vor unserem Haus dringt Lärm herauf: Ein Bus klingelt, das Getöse der Straßenbahn tönt herüber. Mit meinen Gedanken bin ich für einen Moment wieder in der Gegenwart. Dann wandern die Erinnerungen zurück nach Moskau.

 
Inzwischen ist die Restauration des Arbats vollständig abgeschlossen. Das muss herrlich aussehen! Leider kenne ich den Boulevard so, wie er jetzt in alter Schönheit wieder erstanden ist, nur aus den Erzählungen meiner Moskauer Freunde und einer Zeitungsnotiz. In der Zeit vor dem Neujahrsfest fand auf dem Arbat ein Neujahrsmarkt statt, auf dem sehr viele typisch russische Figuren anzutreffen waren. In der Neujahrsnacht bauten Studenten der Architekturhochschule eine ganze Schneefestung in der Größe eines normalen Wohnhauses direkt auf diese Straße, und Studenten der Moskauer Schauspielhochschule spielten in derselben Nacht das improvisierte Stück „Die Eroberung der Schneefestung“. Die Moskauer waren begeistert.

 
Ich stehe am Fenster, sehe auf unsere Straße hinaus, die mittlerweile völlig verschneit ist, und versuche, mir den Arbat im Winter vorzustellen. Damals war es zwar kalt, aber trocken, sodass noch kein Schnee lag.

 
               „Wie ein Fluss fließt du hin, seltner Name, der erstaunt.
 
               Wo Asphalt, wie im Fluss, wassergläsern scheint.“

 
Jetzt bin ich hier, zu Hause, in meinem Zimmer in Berlin und habe Sehnsucht nach Moskau, nach dem Alten Arbat. Die Schallplatte mit dem Lied vom Arbat ist zu Ende. Ich aber verweile mit meinen Gedanken noch immer in Moskau, bei einer Straße, die mir immer auch so in Erinnerung bleiben wird, wie ich ihr das erste Mal begegnet bin, als sie mich so tief beeindruckte.

 
               „Und die Liebe zu dir ist sowie ein steter Brand,
 
               wenn man auch Tausende andere Straßen liebt.“

 
Die Zitate stammen aus der Nachdichtung des „Liedes vom Arbat“ von Frank Viehweg.
 
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