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Russland
 
 
Fünfzehn Kilometer Moskau

 
„Fahrradfahren in Moskau? Nicht, wenn dir dein Leben lieb ist!“

 
Dieser Satz zog sich fast wie ein Mantra durch mein bisheriges Leben, wenn das Thema der bei uns so beliebten Fortbewegungsart in Gesprächen mit russischen Gästen aufkam, die ich beispielsweise in Berlin immer davor warnen muss, allzu forsch aus dem Reisebus zu steigen, weil man nie weiß, welcher Radfahrer schnell und, wenn man Pech hat, ebenfalls unaufmerksam den Weg kreuzt. Auch Freunde aus der russischen Hauptstadt, die mich dann und wann besuchten, staunten über die große Anzahl von Radwegen und Menschen, die sie offenbar gewohnheitsmäßig nutzen, im Berliner Stadtzentrum.

 
Erst als ich im vorigen Jahr in Moskau einen guten Freund wiedertraf, den ich jahrelang aus den Augen verloren hatte, hörte ich zu meiner großen Verwunderung, dass seine Familie durchaus auf Fahrrädern unterwegs ist, und zwar keineswegs nur in dem Dorf, in dem sie den Sommer verbringen, sondern wirklich und wahrhaftig in der Großstadt - und das auch noch, ohne ständig um Leib und Leben zu fürchten.

 
Der Schritt von dieser Erkenntnis bis zum Versprechen „Wenn du das nächste Mal in Moskau bist, fahren wir zusammen irgendwohin“ war dann natürlich nicht mehr weit. Während mein anderer Freund meinte, mich am Abend vor der nun endlich geplanten Radtour bei einem der vielen Gespräche am Küchentisch darauf hinweisen zu müssen, dass ich auch keine zwanzig mehr sei und ja nun (sozusagen auf meine alten Tage) auch nicht anfinge, mit meinem Sohn über ein Fußballfeld zu hetzen (was für ihn sportlich offenbar auf derselben Stufe steht), freute ich mich auf den bevorstehenden Ausflug und wurde nicht enttäuscht.

 
Was bis vor Kurzem auch für mich noch völlig undenkbar gewesen wäre, ist nun Realität: An vielen Punkten in Moskau stehen Leihfahrräder, die man dank besser als bei uns ausgeprägter und wesentlich weiter verbreiteter digitaler Zahlungssysteme völlig unkompliziert mit der Metro-Fahrkarte (sofern diese ein Guthaben aufweist) oder dem Handy bezahlen und dann losradeln kann. Dieses Vergnügen ist zwar nicht unbedingt ein Schnäppchen, aber in jedem Fall erschwinglich und sein Geld allemal wert.

 
Auch der Ausgangspunkt unserer Tour war strategisch mehr als günstig gewählt, denn nach ungefähr einer Viertelstunde erreichten wir den Fernsehturm, der in Moskau nicht wie in Berlin im Zentrum der Stadt gelegen ist, sondern im Norden in unmittelbarer Nähe des Parks von Ostankino. Dieser war früher der Landsitz des Grafen Scheremetjew gewesen. Heute sind sowohl der Park als auch das dazugehörige Gutshaus begehbar und schon lange beliebtes innerstädtisches Ausflugsziel der Moskauer. Noch interessanter wird die Gegend für Radfahrer und Wanderer dadurch, dass sich hier drei Parkanlagen treffen: der bereits erwähnte Park von Ostankino, der Botanische Garten und das überaus weitläufige Gelände der WDNCh, der Allunionsausstellung.

 
Allein die WDNCh ist es schon wert, dass man sie nicht nur zu Fuß erkundet, denn obwohl sie in den 1980er-Jahren immer Teil des offiziellen Besuchsprogramms von Moskau-Reisen war, habe ich nun Teile von ihr gesehen, bis zu denen ich bis dato noch nie vorgedrungen war. Selbst einer der drei bekanntesten Springbrunnen, der in Reiseführern immer wieder Erwähnung findet, ist so abseits gelegen, dass man ihn wirklich nur mit dem Fahrrad erreicht. (Dass er wie vieles in diesem Frühjahr rekonstruktionsbedingt angerüstet war und ich deshalb trotz allem kein gutes Foto von ihm bekam, ist schon wieder Teil einer anderen Geschichte.)

 
Vor einigen Jahren nun wurden aber auch die Gitter zwischen dem Ausstellungsgelände, dem Botanischen Garten und dem Park von Ostankino geöffnet, sodass man sich zwischen allen drei Anlagen frei hin und her bewegen kann, was mit dem Fahrrad eine wahre Freude ist. Wer würde, wenn man vorbei an blühenden Apfelbäumen und Wiesen dem nächsten Waldstück wieder näherkommt, schon meinen, dass man gerade in einer - je nach Statistik - zwischen zwölf und fünfzehn Millionen Einwohner zählenden Stadt unterwegs ist?

 
Als wir mein Fahrrad nach knapp fünf Stunden wieder an seinen Platz stellten, zeigte der elektronische Zähler an, dass ich 14,9 Kilometer gefahren war. Diese Zahl steht jedoch in keinerlei Verhältnis zur Fülle der Erlebnisse und neu gewonnenen Eindrücke und der Erkenntnis, dass ich es „auf meine alten Tage“ noch geschafft habe, in Moskau Fahrrad zu fahren!

 
(Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Text „Zweimal fünfzehn Kilometer Moskau“, der soeben im Almanach „Und zur Nähe wird die Ferne“ im ostbooks Verlag erschienen ist.)
 
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