- Literatur - Reiseblog

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Russland
 
Im Herzen des Landes

 
Fast genau 35 Jahre ist es her, dass ich zum ersten Mal meine Tasche in der Gepäckaufbewahrung abgeben musste, um anschließend einen Ort zu betreten, von dem ich jahrelang geträumt hatte und den ich meinte, von Fotos schon in- und auswendig zu kennen: das Gelände des Moskauer Kremls. Damals war mir diese Bezeichnung noch wie eine Tautologie vorgekommen. Natürlich war der Kreml in Moskau, wo denn sonst?! Mittlerweile weiß ich, dass der Begriff „Kreml“ im Alten Russland so etwas wie eine Zitadelle im Zentrum einer Stadt bezeichnete und dass es auch in anderen Städten wie Kasan, Nischni Nowgorod und Smolensk Kreml gibt. Damals aber war es für mich der einzig wahre Kreml, und ich konnte es kaum erwarten, ihn endlich mit eigenen Augen zu sehen. Zu jener Zeit war ich immer mit Reisegruppen in Moskau, sodass der Kreml zum obligatorischen Besuchsprogramm gehörte und ich mindestens einmal im Jahr die goldenen Kuppeln aus der Nähe bewundern konnte und auch Lenin in seinem Mausoleum einen Besuch abstattete. Die Schlange, die damals noch die Menschenmassen zu ihm führte, gibt es schon lange nicht mehr, und auch die berühmte Wachablösung findet seit 1993 nicht mehr statt.

 
Auch für mich hat sich seit damals vieles verändert. Inzwischen komme ich meist „auf eigene Faust“ nach Moskau, und so bin auch ich dafür verantwortlich, welche Sehenswürdigkeiten ich mir in der jedes Mal recht kurzen Zeit meines Aufenthaltes ansehe. Da ist es auch kein Wunder, dass mein letzter Besuch im Kreml nun schon sage und schreibe zehn Jahre zurück lag. Damals war es ein nasskalter Novembernachmittag gewesen, und die Tatsache, dass es bereits früh dunkel wurde, hatte mir zwar einige schöne Fotos mit dem über dem Großen Kremlpalast aufgehenden Vollmond beschert, unserem Spaziergang über das Gelände aber auch natürlich zeitliche Grenzen gesetzt.
 
Natürlich lag die Vermutung nahe, dass sich in einem architektonischen Ensemble, das seit vielen Jahrhunderten Bestand hat, im Laufe von zehn Jahren allzu viel ändert. (Diese Meinung teilt offensichtlich auch die Tourismusabteilung des Kremls, denn die Informationsfilme, die an den Souvenirständen auf DVD verkauft werden, stammen noch aus der Mitte der 1990er-Jahre.) Dennoch fand ich, dass es nun wieder einmal an der Zeit wäre, die berühmteste Sehenswürdigkeit nicht nur von außen zu betrachten, sondern auch einen Blick ins Innere zu werfen.

 
Gesagt, getan. Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, schlängelten wir uns gemeinsam mit vielen anderen Touristen (die in diesem Jahr vorrangig aus China kamen) von einem Bauwerk zum nächsten und bekamen dabei nicht nur die drei berühmten Kathedralen zu sehen, sondern auch das im Patriarchenpalast befindliche Museum für angewandte Kunst und Alltag im Russland des 17. Jahrhunderts und einige kleinere Bauten. Besonders interessant war dabei der sogenannte Große Schatz des Kreml, der am 17. Mai 1988 auf dem Territorium des Kreml gefunden wurde und aus mehr als 300 Gegenständen besteht. In der Ausstellung „Schätze des Kreml“ werden Fundstücke aus verschiedenen Epochen gezeigt, die bei Ausgrabungen auf dem Kreml-Gelände zutage gefördert wurden. Die ältesten von ihnen stammen aus dem 12. Jahrhundert, und das Spektrum reicht von militärischen Gegenständen über Münzen bis hin zu den verschiedensten Schmuckstücken.

 
Dennoch bleiben nach wie vor einige Träume unerfüllt. So kann man etwa das Interieur des Facettenpalastes nur auf Fotos oder Filmaufnahmen bewundern, und auch die berühmten Säle des Großen Kreml-Palastes bleiben Staatsempfängen vorbehalten. Zum Glück wurden die höchst unästhetischen Umbauten der Sowjetzeit in den 1990er-Jahren wieder rückgängig gemacht, sodass zumindest theoretisch die Möglichkeit bestünde, die „heiligen Hallen“ im Originalzustand zu genießen, wenn sie nicht aufgrund ihrer Funktion als Regierungsgebäude nach wie vor der Öffentlichkeit verschlossen wären.

 
Eines der Gebäude aus der Sowjetzeit hat jedoch bisher alle weiteren Umwälzungen der Geschichte überlebt: der bereits erwähnte Staatliche Kremlpalast, der ursprünglich „Kongresspalast“ hieß. Ihm musste das alte Gebäude der Rüstkammer weichen, und immerhin war er nicht nur der Sitzungssaal für Parteitage und Komsomol-Kongresse, sondern auch Zweitspielstätte des berühmten Bolschoi-Theaters. Doch so schön ich es auch fand, mir dort sogar im Sommer Tschaikowskis „Nussknacker“ anzusehen und im Winter das berühmte Neujahrsfest im Kreml zu erleben, denke ich inzwischen auch, dass er nicht allzu gut zu den ihn umgebenden Gebäuden passt, und warte ab, wie sich die Dinge weiter entwickeln.

 
Vorerst rundet ein Spaziergang durch den Geheimgangsgarten, der seinen Namen dem nächstgelegenen der 20 Kremltürme verdankt,  mit seinem 2008 eingeweihten Springbrunnen meinen diesjährigen Besuch im Kreml ab. Auf einer Fläche von 28 Hektar kann man im Kreml die gesamte russische Geschichte en miniature nachvollziehen: Prunk und Luxus, Umstürze und Bilderstürmerei, Zerstärung und Wiederbaufbau - all das hat es auch hier gegeben. Seit 1990 gehört der Kreml zum UNESCO-Weltkulturerbe, und ich bin mir sicher, dass ich auch in Zukunft immer wieder einmal hierherkommen werde, weil man eben nicht auf Dauer nach Moskau fahren kann, ohne auf dem Kathedralenplatz gestanden und am Senаtspalast entlangzuschlendern, der inzwischen der Sitz des russischen Präsidenten ist.

(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Moskauer Kaleidoskop“ im ostbooks Verlag erschienenen Reiseskizze.)
 
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