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Russland
 
 
Modernste Technik für eine Jahrtausende währende Geschichte

 
Es ist schon eine Weile her, dass ich in einer Fernsehreportage über Moskau einen Beitrag über das dortige Jüdische Museum gesehen habe. Deshalb stand mein Entschluss fest: Diesmal würde ich es auf jeden Fall besuchen. Ich hatte bereits von der herausragenden Museumstechnik dieses Hauses gehört und wollte mir nun unbedingt selbst ein Bild davon machen. Interessant ist schon das Gebäude, in dem es untergebracht ist: ein ehemaliges Busdepot, erbaut 1927 im Stil des Konstruktivismus von den bekannten Avantgarde-Architekten Konstantin Melnikow und Wladimir Schuchow. 2012 wurde dort nun das Jüdische Museum mit dem Zentrum für Toleranz eröffnet.

 
Schon beim Betreten der riesigen Halle bekommt man eine Vorstellung davon, dass die eingeplante Zeit für den Besuch vielleicht nicht ausreichen könnte, denn es gibt wirklich überall etwas zu sehen. Zuerst wird man jedoch in einen abgetrennten runden Bereich gebeten, um sich dort einen 4D-Film über die biblischen Ereignisse der Erschaffung der Welt und die Anfänge der Geschichte des jüdischen Volkes anzusehen. Kommt die Sintflut, wird Wasser gesprüht, wird es stürmisch, wackeln die Sitze. Es ist wirklich eindrucksvoll, welche Effekte sich mit eigentlich einfachen Mitteln erreichen lassen. Dass der Saal ein Rundkino ist, muss in diesem Zusammenhang wahrscheinlich nicht einmal gesondert erwähnt werden, denn diese Art der Präsentation hat in Russland nun wirklich eine lange Tradition: Auf der Allunionsausstellung war das bereits seit 1959 die Attraktion.

 
Nach dieser Einführung kann man sich dann selbst auf den Weg machen, um die jüdische Geschichte zu erkunden. Unterstützt wird man dabei immer wieder von überaus moderner Technik wie etwa einem interaktiven Globus, auf dem man die einzelnen Wellen der Migration und der Diaspora des jüdischen Volkes verfolgen kann.

Danach kommt man ins Schtetl und erfährt, dass diese Siedlungen in Russland nach einem Erlass des Zaren entstanden, der es den Juden verbot, sich in Großstädten anzusiedeln. Dass die Geschichte der Juden im zaristischen Russland bereits eine Geschichte von Ausgrenzung und Verfolgung war, wird beispielsweise in dem Musical „Anatevka“ deutlich, das auf den Erzählungen über Tewje den Milchmann von Scholem Alejchem basiert, eines  der Gründerväter der jüdischen Literatur, der 1859 in Kiew geboren wurde. Auch das Wort „Pogrom“ ist russischen Ursprungs und kam im Zusammenhang mit Übergriffen auf Juden in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf.

 
Dennoch ist der Narrativ des Museums kein klagender oder anklagender, vielmehr liegt der Schwerpunkt darauf, jüdisches Leben zu erklären und einen Einblick in die Geschichte mit all ihren Facetten zu geben. Es geht um die Wurzeln des russischen Judentums, um Juden im Russischen Reich und um die Erschütterungen und Veränderungen durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution.

 
Das Leben und Wirken sowjetischer Juden in der Zeit vor dem Großen Vaterländischen Krieg wird anhand eines großen waagerecht liegenden fünfzackigen Sterns veranschaulicht, auf dem immer wieder Fotos von führenden jüdischen Vertretern der Bereiche Kunst und Kultur, Wissenschaft, Landwirtschaft, Politik und Religion sichtbar werden. Schafft man es, eines der Fotos zu berühren, erscheint die entsprechende Biografie ebenfalls auf dem Stern.

 
Bei der Darstellung des Krieges und des Holocaust kommt wieder ein für russische Museen typisches Element zum Tragen, das Diorama. Allerdings wurde auch das mit Hilfe eines über die ganze Wand reichenden halbrunden Bildschirms modernisiert, auf dem man einerseits den Wechsel der Jahreszeiten und der damit verbundenen Ereignisse des Krieges verfolgen kann, andererseits auch Äußerungen von Zeitzeugen hört. Möchte man sich mit diesen Berichten genauer befassen, sollte man an dieser Stelle viel Zeit einplanen, denn im ganzen Bereich dieser Thematik gibt es Stelen mit Audio- und Videomaterial bis hin zu Aufzeichnungen von Liedern und Gedichten wie Jewtuschenkos berühmtem „Babi Jar“ und der zu diesem Werk verfassten Sinfonie von Schostakowitsch.

 
Ein kleiner abgetrennter Raum, die Gedenkstätte, erfüllt hier mit digitalen Mitteln die Funktion, für die in Prag die Pinkas-Synagoge steht. Während dort die Namen der Holocaustopfer in kleiner Schrift an den Wänden stehen, leuchten sie hier an Glaswänden in dem abgedunkelten Raum auf.

 
Auch nach dem Krieg war die jüdische Bevölkerung weiterhin Repressalien ausgesetzt. Kulturschaffende wurden des Kosmopolitismus bezichtigt, der damals als staatsfeindlich galt, weil er Verbindungen zu Ländern implizierte, die sich während des Kalten Krieges auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs befanden. Traurige Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang die sogenannte Ärzteverschwörung, mit der Anfang der 1950er-Jahre Mediziner vorrangig jüdischer Herkunft unter dem Vorwand ausgeschaltet wurden, sie hätten geplant, Sowjetfunktionäre zu töten.

 
Über diese und viele andere Fälle juristischer Willkür kann man sich an einem Schrank mit Akten des Zentralarchivs informieren, aus dem man wie bei einem Apothekerschrank einzelne Fächer herausziehen kann, in denen die kompletten Aktenordner präsentiert werden.

Doch auch die digitale Technik bleibt hier nicht außen vor: Auf einer authentisch wirkenden Schreibmaschine werden nach und nach historische Dokumente wie etwa ein Telegramm getippt, wobei die Schrift aber nicht auf Papier, sondern, begleitet von dem typischen Geräusch, auf einem in die Schreibmaschine integrierten Bildschirm erscheint.

Mein persönliches Highlight der Museumstechnik war jedoch die sowjetische Wohnung der 1970er-Jahre, die man betritt, wie man damals eben zu Besuch gekommen ist. Über einen Bewegungsmelder geht das Licht an, und zunächst sieht man nur einen Raum mit der typischen Möblierung dieser Zeit. Kurze Zeit später aber erscheinen auf Glasplatten Hologramme der Menschen, die in dieser Wohnung gelebt haben. Sie unterhalten sich, bereiten das Abendessen vor, und aus ihrem Gespräch erfährt man etwas über die Lebenswelt jüdischer Sowjetbürger in der Zeit der breschnewschen Stagnation. Durch diese Installation fühlt man sich nicht als Zuschauer, sondern wirklich als wäre man bei diesen Menschen zu Besuch.

Umlaufend um die gesamte Ausstellung kann man sich anhand von Fotos und Schrifttafeln chronologisch über die Geschichte der Juden im 20. Jahrhundert und über jüdisches Leben im Russland der Gegenwart informieren. Vieles in diesem Museum regt zum Nachdenken, Nachlesen und noch einmal Nachschlagen an, und im Nachhinein fällt es mir schwer zu sagen, was mich mehr beeindruckt hat: die Aufbereitung jüdischer Geschichte, die in einem einzigen großen Raum mehrere Jahrtausende umfasst, oder die technische Umsetzung dieser gewiss nicht leicht zu realisierenden Idee. Eigentlich ist das aber auch zweitrangig, denn egal, aus welchem Grund man dieses ungewöhnliche Museum besucht, eine Horizonterweiterung ist es in jedem Fall.


 
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