- Literatur - Reiseblog

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Russland
 
Zuneigung auf den zweiten Blick

 
Wer ein Faible für russische Geschichte hat, kennt sie sicherlich - die berühmte Hafentreppe von Odessa, die in Sergei Eisensteins Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin" eine tragende Rolle spielt. Weniger bekannt dürfte jedoch sein, dass es auch anderswo in der ehemaligen Sowjetunion Treppen dieser Art gibt, die zu der einen oder anderen Uferpromenade hinunterführen. Eine von ihnen gibt es in Wolgograd, einer Stadt, die in ihrer über 400-jährigen Geschichte schon den dritten Namen hat.

 
                Gegründet 1589, hieß sie bis 1925 Zarizyn, seit 1961 nun heißt sie Wolgograd, doch ihren hohen Bekanntheitsgrad verdankt die Stadt dem Namen, der sie am kürzesten von allen begleitet hat: Stalingrad. Vieles hier erinnert noch an diesen Winter 1942/43, der die Kriegswende brachte und unzählige Opfer forderte.

 
               Das erste Mal kam ich im Sommer 1988 nach Wolgograd - während einer Pauschalreise mit einer Jugendgruppe und quasi auf dem Weg von Kiew nach Moskau. In beiden Städten hatte ich gute Freunde, und Wolgograd lag auf der festgelegten Reiseroute eben irgendwie "dazwischen". Hinzukam, dass es mir nach einer Stadt wie Kiew mit seinen uralten Baudenkmälern wie dem Höhlenkloster und der Sophienkathedrale erst recht schwerfiel, mich darauf einzustellen, dass es in Wolgograd keinerlei Vorkriegsarchitektur mehr gab.

 
Wenn man die Geschichte kennt und noch dazu aus einer Stadt kommt, in der das Zentrum zu achtzig Prozent zerstört war, ist einem das rational zwar alles völlig klar, dennoch ist Wolgograd eben anders als die russischen Städte, die ich bis dato kannte. Beeindruckend auf jeden Fall, nicht nur aufgrund seiner historischen Bedeutung, auch wegen der geografischen Lage: Fast hundert Kilometer erstreckt sich die Stadt entlang des rechten Wolgaufers, wobei sie auch an ihrer breitesten Stelle nur neun Kilometer breit ist. Das bringt, möchte man ein wenig aus der Stadt herausfahren, sich aber dennoch nicht allzu weit vom Fluss entfernen, mitunter erhebliche Fahrzeiten mit sich.

 
               Dennoch schien es mir bei meinem ersten Besuch, als sei alles überlagert von den Narben der Wunden, die der Große Vaterländische Krieg, wie er in Russland genannt wird, der Stadt beigebracht hat. Auch mehr als vierzig Jahre später schien mir diese Zeit in der Stadt allgegenwärtig, und auch ich selbst hatte Mühe, mich davon zu lösen. Vielleicht sollte man gerade das auch gar nicht tun, um ermessen zu können, welche Bedeutung der Mamajew-Hügel bis heute für die Wolgograder hat. Dieser Hügel ist gewissermaßen das Zentrum der Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad: Hier wurden 35.000 ihrer Opfer begraben, und hier erhebt sich inmitten anderer Skulpturen die Mutter Heimat, mit 82 Metern Höhe die höchste freistehende Statue der Welt.

 
               Auch andere Denkmäler und Sehenswürdigkeiten sahen wir auf dieser Reise - das Diorama über die Schlacht von Stalingrad, eine in der Sowjetunion sehr weit verbreitete Form der Geschichtsdarstellung, den Anfang des Wolga-Don-Kanales und vieles andere -, und ich hatte als wir abreisten, lediglich das Gefühl, dass man das alles einmal gesehen haben sollte. Eine größere Verbundenheit zu Wolgograd als Stadt wollte sich nicht einstellen.

 
               Fünf Jahre später sollte sich diese Einstellung geradezu schlagartig ändern: Diesmal kam ich dienstlich mit einer Gruppe nach Wolgograd, und wir sahen und Kirchen der verschiedensten Konfessionen, karitative Einrichtungen und natürlich auch wieder die Sehenswürdigkeiten an, die ich schon von meinem ersten Besuch her kannte. Wir begegneten dabei Menschen, die so überaus herzlich und gastfreundlich waren, dass sich die Sympathie, die ich für sie empfand, sofort auf die Stadt übertrug. Ich sah sie jetzt mit anderen Augen: als die Heimat derjenigen, die eine Woche lang alles dafür taten, uns ihre Stadt nahezubringen. Inzwischen war es mir auch gelungen, meinen persönlichen Lieblingsplatz in Wolgograd auszumachen. Das Hotel, in dem wir wohnten, befand sich direkt im Stadtzentrum, und die eingangs beschriebene Treppe war nicht weit davon entfernt. Wir passierten sie fast täglich, wenn wir zum Wolgaufer gingen, und ich fand sie mit jedem Mal schöner. Als die Woche vorbei war, tat es mir aufrichtig leid, die Stadt verlassen zu müssen, und deshalb war ich sehr froh, als sich nun wieder die Gelegenheit ergab, ihr einen Besuch abzustatten.

 
               Viele Jahre waren seit meinem ersten Besuch vergangen, zwölf allein seit dem zweiten. Wieder war es ein beruflicher Grund, der mich hierher brachte, und wie schon bei meinem Aufenthalt zuvor zog mich die Treppe zum Wolgaufer in ihren Bann. Da klar war, dass es diesmal ein kurzer Besuch sein würde, lief ich ganz früh am Morgen zu der Treppe und konnte mit ansehen, wie die Stadt erwachte. Noch wurden die Stufen gefegt, und nur vereinzelt waren Passanten zu sehen, doch das würde sich in den nächsten Stunden sicher schnell ändern.

 
               Danach begann ein straff organisierter Arbeitstag, der jedoch nicht verging, ohne dass wir dem Mamajew-Hügel einen Besuch abgestattet hätten. Für einige Mitreisende war es schließlich der erste Besuch in Wolgograd, und auch ich hätte mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen können, in dieser Stadt zu sein, ohne die Mutter Heimat zu sehen.

 
Die Vorzeichen meiner Begegnung mit der Stadt hatten sich im Vergleich zu den beiden Malen davor wieder geändert. Inzwischen hatte ich in Deutschland eine Familie aus Wolgograd kennengelernt, mit der wir nun schon seit einigen Jahren befreundet waren und regelmäßigen Kontakt hielten. Da traf es sich natürlich umso besser, dass wir endlich auch an einem Abend gemeinsam durch Wolgograd schlendern konnten. Es war zwar selbst für südrussische Verhältnisse unerträglich heiß, aber das führte auch zu einer ganz besonderen Atmosphäre. In dieser Sommernacht umgab uns Wolgograd mit geradezu mediterranem Flair. Die Wolga ist hier schließlich bis zu zwei Kilometer breit, und da zumindest bei Tageslicht das andere Ufer häufig nicht zu sehen ist, kann man bisweilen schon den Eindruck gewinnen, man sei am Meer. Abends leuchten zwar die Lichter auf der gegenüberliegenden Seite, doch sie sind so weit entfernt, dass das der Atmosphäre keinen Abbruch tut. So schlenderten wir die Uferpromenade entlang, warfen einen Blick (es war tatsächlich kaum mehr) auf die unterirdische Straßenbahn, die es in Wolgograd statt einer Metro gibt und ließen uns schließlich in einem Restaurant am Flusshafen nieder, von dem aus man einen herrlichen Blick über die Wolga hat. Da es am Ufer auch noch viele andere Cafés, Restaurants und sogar Karussells gab, konnte man sich wirklich fühlen wie in einem der mondänen Kurorte.

 
               Ich aber spürte, wie sehr mir die Stadt und ihre Menschen inzwischen ans Herz gewachsen waren. Auch wenn ich die meisten Sehenswürdigkeiten bereits seit Langem kannte, haben sie mich immer wieder sehr beeindruckt, und nun wusste ich, dass ich sicher nicht das letzte Mal in Wolgograd gewesen sein würde. Dafür gab es inzwischen zu vieles, das mich immer wieder hierher ziehen würde.

 
(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
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