- Literatur - Reiseblog

Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Russland
 
Wieder einmal nachts im Museum

 
Lange Nächte aller Art sind mittlerweile in europäischen Großstädten keine Seltenheit mehr. Da gibt es die „Lange Nacht des Theaters“, die „Lange Nacht der Wissenschaften“ und die „Lange Nacht der Museen“. In diesem Punkt unterscheidet sich Moskau nicht von Berlin, und nachdem ich vor zwei Jahren das Glück gehabt hatte, zur „Biblionacht“ im April, der langen Nacht der Bücher, in Moskau zu sein, fiel in meinen diesjährigen Aufenthalt die „Nacht im Museum“.

 
Diese lockte einerseits mit fast überall freiem Eintritt, andererseits mit extra dafür konzipierten Veranstaltungen, die ich mir keinesfalls entgehen lassen wollte. Ein mehr als offenes Ohr für dieses Anliegen fand ich bei einem guten Freund und seiner Familie, und so verabredeten wir, dass wir uns zu einem groß angekündigten Comic-Festival treffen würden. Wer ein Aufgebot an Cosplayern, Verlagen und Ständen erwartet, das beispielsweise dem in Leipzig oder Frankfurt ähnelt, wird in Moskau derzeit wohl noch enttäuscht werden, da die entsprechende Szene dort gerade erst in der Entstehung begriffen ist. So landeten wir also in einem kleinen Kellergewölbe mit drei Räumen, das ansonsten wohl eher ein Restaurant ist, und maximal zwanzig sehr enthusiastischen Ausstellern.

 
Jedoch waren weder die beschriebene Veranstaltung noch die Erkenntnis, dass Comics hier ein Genre der Zukunft sind, tragfähig für einen ganzen Abend, sodass wir uns noch etwas anderes suchen mussten, um diese Nacht nicht fast ungenutzt vorüberziehen zu lassen. Ein Ausweg war schnell gefunden; er trug die sperrige Bezeichnung „Institut für russische realistische Kunst“. Wobei sich „schnell gefunden“ lediglich darauf bezieht, dass wir uns umgehend einig waren, was wir machen wollten, das Institut selbst mussten wir deutlich länger suchen, weil es sich auf einem alten Fabrikgelände befindet.

 
Dort erwartete uns dafür auch – gewissermaßen als Entschädigung – ein buntes Treiben mit Pflastermalern, einer angekündigten Theatervorstellung und vielem anderen, was man in einer lauen Mainacht wie dieser so schön finden kann. Wegen der Kinder konzentrierten wir uns jedoch auf das Institut als solches, das sich als sehr gut ausgestattete Gemäldegalerie entpuppte.

 
Da diese Nacht ein besonderes Event war und hier auch wirklich als solches zelebriert wurde, hatte man sich zwei Quizvarianten ausgedacht – eine für Kinder und eine für Erwachsene. Die Erwachsenenversion bestand darin, dass man ein A4-Blatt in die Hand gedrückt bekam, auf dem sich zehn kleine Quadrate befanden. Diese waren Details aus Gemälden, und man musste in ein daneben stehendes Kreuzworträtsel jeweils den Namen des Malers eintragen, um zum Schluss das Lösungswort „Nacht im Museum“ herauszubekommen. Da ich Rätsel dieser Art ohnehin sehr mag, machte ich mich gleich auf die Suche nach den entsprechenden Bildern, in ständiger treuer Begleitung der sechsjährigen Tochter meiner Freunde. Das Museum verfügt zwar über Audioguides, aber in dieser Konstellation ergab sich ihre Nutzung dann doch nicht, sodass wir uns aufs reine Anschauen beschränkten. Durch meine junge Begleitung ergaben sich aber dennoch spannende Blickwinkel und fast schon philosophische Gespräche, die ich um keinen Preis hätte missen mögen.

 
Das Museum als solches existiert seit 2011 und basiert auf der privaten Sammlung eines Geschäftsmannes, die inzwischen mehrere Tausend Bilder sowjetischer und russischer Maler des 20. und 21. Jahrhunderts umfasst. Ausgestellt sind etwa 500 Werke, und die Ausstellungsfläche in dem alten Fabrikgebäude beträgt ca. 4500 Quadratmeter. Es befindet sich übrigens in unmittelbarer Nähe des Metochis von Krutizy und des Neuen Erlöserklosters – wenn man also einen Abstecher in diese Gegend in seinem Besuchsprogramm einplant, kann man dort gut einen ganzen Tag verbringen und kulturelle Eindrücke der unterschiedlichsten Art sammeln.

 
Das thematische Spektrum der präsentierten Werke ist ausgesprochen breit gefächert. Es reicht von Stillleben über idyllische Landschaftsbilder bis hin zu all dem, was zu meiner Schulzeit unter „Sozialistischer Realismus“ zusammengefasst wurde. Diesen Begriff kann man nun aus heutiger Sicht in Bausch und Bogen verdammen oder auch nicht, die Gemälde sind teilweise ein so getreues Abbild jener Zeit, dass ich mich mitunter regelrecht zurückversetzt fühlte: in die Umkleidekabine vor dem Sportunterricht, die Metro mit ihren damaligen Protagonisten, die Sommer im Moskauer Umland.

 
Doch auch die Kriegsthematik ist, wie derzeit in Russland kaum anders zu erwarten, sehr intensiv vertreten. Ob das dem allgemeinen Zeitgeist oder dem Geschmack des Besitzers geschuldet ist, vermag ich nicht zu sagen. Dennoch gibt es nicht nur Heroisch-Überhöhtes, sondern auch einige Bilder, die den Alltag des Krieges und seine Folgen eindrucksvoll zeigen. Mit Hilfe der Gemälde in diesem Museum kann man, wenn man möchte, auch anhand der auf einigen von ihnen dargestellten Persönlichkeiten die sowjetische und russische Geschichte der letzten hundert Jahre nachverfolgen.

 
Mir haben besonders die neueren Werke in der dritten Etage gefallen, die mit Stilmitteln spielen und mal plakativ (etwa mit einer Ampel, bei der in den frühen 1990er-Jahrendie grünen Pfeile in alle Richtungen zeigten), mal collagenhaft mit Anlehnungen an Vermeer und Van Gogh daherkommen. Alles in allem hat sich der Besuch in diesem mir bis dato völlig unbekannten Museum (übrigens ein Nicht-Wissen, das ich mit vielen alteingesessenen Moskauern teile) mehr als gelohnt, und auch ohne den Kühlschrankmagneten, den ich als Quizgewinn bekommen habe, wäre es das Rätsel wert, als Herausforderung für Besucher auch an anderen Tagen angeboten zu werden, denn viele Details hätte ich ohne diese Aufgabe vielleicht gar nicht bemerkt.

 
Die Kinder hatten ebenfalls ihren Spaß und haben sich fest vorgenommen, an einem Wochenende mal zu einem der angebotenen Workshops, die es sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gibt, im Institut vorbeizuschauen. So ist es also doch noch ein rundum gelungener Abend geworden, und ich habe meine Vorstellung davon, was man nachts im Museum erleben kann, um eine neue Facette erweitert.

(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Moskauer Kaleidoskop“ im ostbooks Verlag erschienenen Reiseskizze.)

 
Copyright 2015. All rights reserved.
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü