- Literatur - Reiseblog

Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Russland
 
 
Eine Lexikonseite für jeden Bewohner

 
„Wenn du Lust hast, mache ich für dich eine Führung durch die Pretschistenka“, sagte mein Moskauer Freund am vorletzten Tag meines diesjährigen Besuches, und so etwas lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Einerseits weil sich diese Gelegenheit naturgemäß nicht allzu oft ergibt, andererseits weil uns viele gemeinsame Interessen verbinden, von denen die Liebe zu Literatur und Sprachen wohl am prägnantesten ist. Und so habe ich es schon in unserer frühesten Jugend genossen, mit ihm durch das damals gerade ganz neu eröffnete Museum in der ehemaligen Wohnung Puschkins auf dem Alten Arbat zu streifen und mir von ihm erzählen zu lassen, welche Textstelle aus dem berühmten Versroman „Eugen Onegin“ zu welchem der Exponate passte.

 
Hinzu kam die Tatsache, dass ich die Straße, die er mir vorschlug zu erkunden, zwar natürlich schon lange kannte und wusste, dass sie viele der wahrhaft historischen Gebäude der Stadt beherbergt (sofern diese es geschafft haben, den baulichen Umwälzungen der letzten zwanzig Jahre zu trotzen), dass ich viel über sie wusste, konnte ich allerdings nicht behaupten. Dies wiederum ist eigentlich eine Schande, denn die Straße als solche wird von ihrer Bedeutung her gern mit Paris-Saint Germain gleichgesetzt, weil, wie es in einem Reiseführer heißt, der Name jedes Hausbesitzers hier schon eine Lexikonseite füllt. Was läge also näher, als sich das alles von einem alteingesessenen Moskauer erzählen zu lassen, der bereits seit weit über vierzig Jahren nur eine Querstraße weiter wohnt?!

 
Doch auch die Pretschistenka selbst geizt nicht mit literarischen Bezügen: So erfuhr ich beispielsweise, in welchem Haus sich die Wohnung befindet, in der das „Hundeherz“ von Michail Bulgakow spielen soll - eine frühe Persiflage auf technische Möglichkeiten und moralische Grenzen der Biowissenschaften. In diesem Eckhaus hatte am Anfang des 20. Jahrhunderts der Onkel des Schriftstellers gewohnt, der berühmte Gynäkologe Pokrowski, der später die Vorlage für den Haupthelden der Novelle, Professor Preobraschenski lieferte. An dieser Stelle sei ebenfalls erwähnt, dass auch Bulgakow zur relativ großen Gruppe russischer Schriftsteller gehörte, die gleichzeitig Arzt waren - er wusste also, wovon er schrieb.

 
Auch andere große Literaten haben hier ihre Spuren hinterlassen - da ist die Tatsache, dass das Tolstoi-Museum keinerlei biografische Beziehung zu dem großen Schriftsteller aufweist, schon eher als Randnotiz zu werten. Sehr wohl in der Pretschistenka gewohnt hat hingegen Sergei Jessenin, und zwar während seiner Ehe mit der amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan, die es nach der Oktoberrevolution nach Russland verschlagen hatte, wo sie in das Haus der russischen Primaballerina Alexandra Balaschowa zog, die wiederum ihrerseits nach Paris gegangen war. Der Zufall wollte es, dass sie dort in dem Haus in der Rue de la Pompe wohnte, das zuvor Isadora Duncan gehört hatte. Als diese später davon erfuhr, soll sie gelacht und das Ganze als „Quadrille“ bezeichnet haben.

 
Viele große und kleine Dichter hat diese Straße im Laufe der Jahrhunderte gesehen, so auch Denis Dawydow, einen Freund Alexander Puschkins. Dieser hatte ursprünglich als Generalleutnant seinen Dienst getan, um sich für seinen wohlverdienten Ruhestand wieder in der Gegend niederzulassen, in der er schon immer gewohnt hatte. So erwarb er ein wahrhaft repräsentatives Anwesen in der Pretschistenka, musste jedoch nach einiger Zeit feststellen, dass dessen Unterhalt mit Angestellten und allem, was dazu gehörte, über seine Möglichkeiten ging. Auch die Tatsache, dass es sich direkt neben der Feuerwache befand, die Dawydow zunächst noch als Vorteil angesehen hatte, stellte sich im Nachhinein auch als Nachteil heraus, da die Lärmbelästigung durch ständige Alarme und Übungen ausgesprochen hoch war. Also schrieb Dawydow 1836 ein Gedicht, das er vorsorglich „Bittschrift“ nannte und in dem er den zuständigen Senator bat, ihm das Anwesen für die nicht eben lächerliche Summe von hunderttausend Rubel als Residenz für den Polizeiobermeister der Stadt abzukaufen. Puschkin veröffentlichte die „Bittschrift“ in der beliebten Zeitschrift „Sowremennik“ („Zeitgenosse“), doch aufgrund des hohen Preises kam das Geschäft dennoch nicht zustande. Erst ein Jahr später gelang es Dawydow, Haus und Grundstück zu verkaufen, und er zog sich auf seinen Besitz im Gouvernement Simbirsk zurück.

 
So könnte jedes Haus in dieser Gegend eine Geschichte erzählen: von Wera Muchina, der Bildhauerin, von der die berühmte Statue „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ stammt, oder von Michail Wrubel, dem Maler, dessen bekanntes Gemälde „Die Schwanenprinzessin“ im Haus Pretschistenka 39 vollendet wurde, in dem der Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts eine Wohnung gemietet hatte.

 
Eine der bekanntesten Legenden dürfte aber die vom Haus mit dem Weinglas sein, das zwar nicht in der Pretschistenka steht, von dort aus aber aufgrund seiner Höhe und der geografischen Nähe gut zu sehen ist. Es handelt sich um das Haus des Kaufmanns Filatow, das Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut wurde. In der Überlieferung heißt es, dass dieser Kaufmann dem Alkohol so sehr zugetan gewesen sein soll, dass er Gefahr lief, sein gesamtes Vermögen zu verlieren. Deshalb ließ er die Kuppel seines Hauses in Form eines umgekehrten Weinglases bauen, um immer wieder daran erinnert zu werden, dass er dem Alkohol ein für alle Mal entsagt hatte, was ihm wohl auch gelungen ist.

 
Wie viel von dem, was man sich hier erzählt, Dichtung und wie viel Wahrheit ist, ist manchmal, wie so oft in alten Städten, nicht recht auszumachen. Doch genau die Verquickung von Geschichte und Geschichten hat für mich immer wieder einen eigenen Reiz, und deshalb werde ich die Straße, durch die ich vorher schon so oft gegangen war, nun auf jeden Fall mit anderen Augen sehen.

(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Moskauer Kaleidoskop“ im ostbooks Verlag erschienenen Reiseskizze.)

 
Copyright 2015. All rights reserved.
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü