Eine wahrhaft stilvolle Stadt
Es gibt Irrtümer, die eine lange
Halbwertzeit haben, ehe sie sich mit einem Mal in Luft auflösen. Man trägt sie
lange mit sich herum, bevor man bemerkt, dass sie keinerlei Substanz haben. Einer
dieser Irrtümer hat sich bei mir mehr als zehn Jahre lang gehalten. Vor etwa
dieser Zeit erzählte mir nämlich die Vermieterin unserer damaligen
Ferienwohnung, dass sie Architektur in Valencia studiert hat, weil sie in
Barcelona keinen Studienplatz bekommen hatte. Obwohl sie selbst gleich
anschloss, dass sie sich in Valencia sehr wohl gefühlt habe, habe ich sie im
Stillen immer ein wenig bedauert, weil ich Barcelona schließlich kannte und
davon hellauf begeistert war.
Nun aber bot sich mir zum ersten
Mal die Gelegenheit, selbst nach Valencia zu fahren, und mein Bedauern, das ich
jahrelang genährt hatte, war von einem Moment zum anderen verflogen. Ich hatte
Valencia wirklich Unrecht getan - was hat diese Stadt nicht alles zu bieten!
Ich habe zwar keine Ahnung, wie ein Architekturstudium aufgebaut ist, aber dass
man hier Anschauungsobjekte für die verschiedensten Stile findet, wurde mir
beim Bummel durch die Stadt und dem Besuch der Kathedrale schlagartig klar.
Allein in der mehr als 750 Jahre
alten Kathedrale findet man - wie so häufig in alten Gotteshäusern - mehrere
Stile vereint. Von der ursprünglichen Frühgotik bis zum Klassizismus ist alles
vertreten. Die unverputzten Spitzbögen und Kreuzgewölbe aus Naturstein stammen
bereits aus dem 13. Jahrhundert. Die Auferstehungskapelle ist eines der ersten
Renaissancewerke Spaniens. Die Gemälde des Altars, der ebenfalls Renaissance-,
aber auch schon Barockelemente enthält, stammen von Fernando Yáñez de la
Almedina und Hernando de los Llanos, die Mitarbeiter von Leonardo da Vinci
gewesen sein und die Renaissancemalerei auf die Iberische Halbinsel gebracht
haben sollten. Am besten aber gefielen mir die musizierenden Engel des
Altargewölbes, gemalt im 15. Jahrhundert von Francesco Pagano und Paolo de San
Leocadio. Sie waren lange unter anderen Bauelementen verborgen und wurden erst
2004 wieder entdeckt und freigelegt.
Klassizistisch ist hingegen der
Laternenturm, achteckig und mit Alabasterfenstern. In seinen Trompen, wie man
die Ecknischen nennt, befinden sich Skulpturen der vier Evangelisten mit ihren
jeweiligen Attributen. Sie alle sind in schlichtem Weiß gehalten und nur teilweise
vergoldet.
Auch die Prunkstücke, die in der
Kathedrale hinter Glas ausgestellt sind und die man dort besichtigen kann,
spannen einen Bogen über viele Epochen. Da ist einerseits der Heilige Gral, der
Kelch, aus dem Jesus beim Heiligen Abendmahl getrunken haben soll. Natürlich
beanspruchen mehrere Stätten in aller Welt genau diese Reliquie für sich, aber
Valencia ist zumindest eine von ihnen, und der Kelch hat natürlich auch seine
eigene Kapelle, in der er effektvoll in Szene gesetzt wurde.
In anderen Räumen findet man
Werke der großen spanischen Meister wie beispielsweise Francisco de Goya. Eines
der neueren Ausstellungsstücke hingegen ist die größte Prozessionsmonstranz der
Welt. Sie ist 5 Meter hoch und 2,5 Meter breit und besteht aus 600 Kilogramm
Silber, 5 Kilogramm Gold und 750 Gramm Platin. Diese Materialien wurden von
Spaniern unter anderem in Form von Schmuck als Wiedergutmachung für die
Sakrilege gespendet, die während des Bürgerkrieges in den Jahren 1936 bis 1939
begangen wurden. Die Monstranz stammt also aus der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts.
Das absolute Highlight des
modernen Valencia aber ist zweifellos die Stadt der Künste und der Wissenschaften.
Dieses architektonische Ensemble, das im trockengelegten Flussbett des Turia
liegt, wurde 1998 eingeweiht und beherbergt heute ein Museum, eine Oper, ein
3D-Kino, ein Planetarium und vieles mehr. Jedes der Gebäude hat eine andere
Form: Eines soll an ein geöffnetes Auge erinnern, eines an eine Haifischflosse und
eines an ein Schiff, das auf den Wellen reitet. Es gibt einen Schattengarten,
der in Form einer langen Promenade angelegt ist, und einen Skulpturengarten.
Der Publikumsmagnet schlechthin
aber ist das Oceanogràfic, das größte Aquarium Europas. In elf verschiedenen
Gebäuden kann man hier 500 Arten von Meerestieren aus aller Welt beobachten, in
Tunneln durch ein Haifischbecken laufen und in dem der Arktis gewidmeten
Bereich sogar Walrosse und Belugawale sehen. Das Aquarium hat ein
Gesamtfassungsvermögen von 42 Millionen Litern Wasser und deckt mit seinen
Themenbereichen alle wichtigen Klimazonen der Erde ab.
Wollte man
all das, was auch wir uns nur stippvisitenartig angesehen haben, intensiver
besichtigen, bräuchte man für eine Stadt wie Valencia mit Sicherheit mehrere
Tage. Aber ich bin überzeugt, dass auch ein solcher Ausflug sich lohnen würde,
denn die Stadt, die bereits in der Antike gegründet wurde, hat noch wesentlich
mehr zu bieten.