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Tschechien
 
 
Bethlehem ist überall

 
Wenn es hierzulande um Bethlehem geht, hat man in der Regel eine klare Vorstellung davon, was damit gemeint ist: eine Stadt im Westjordanland an der Grenze zu Jerusalem, nach den Evangelien des Lukas und des Matthäus der Geburtsort Jesu.

 
Anders ist es bei unseren Nachbarn. In Tschechien geht es schon damit los, dass ein "Bethlehem" (oder, wie es in der Landessprache heißt, "betlém") aus den unterschiedlichsten Materialien bestehen kann - aus Holz, aus Stein, aus Papier und sogar aus Filz oder, was relativ verbreitet ist, aus Pfefferkuchen. Des Rätsels Lösung ist recht einfach: "Bethlehem" ist im Tschechischen eines der Synonyme für eine Weihnachtskrippe. Diese erfreuen sich dort einer ähnlich großen Beliebtheit wie bei uns beispielsweise die Pyramiden. Das wurde mir wieder bewusst, als ich Anfang Dezember in Trutnov, einer nicht sehr großen Stadt in den Ausläufern des Riesengebirges, ein Plakat sah, das verkündete, dass im Rathaus die alljährliche Krippenausstellung zu sehen sei. Da Trutnov nicht zu den Städten gehört, in denen man an einem winterlichen Samstagnachmittag noch einen ausufernden Einkaufsbummel starten könnte, bogen wir vom Hauptplatz direkt in das Rathaus ab und wurden von der Fülle der verschiedenen Krippen geradezu erschlagen.

 
Alljährlich bringen Bewohner der Stadt ihre weihnachtlichen Schätze als Leihgaben in das Rathaus, und große und kleine Bewunderer haben einige Wochen lang die Gelegenheit, sich alles genau anzusehen. Dabei gibt es sowohl Krippen, die von den Leihgebern selbst angefertigt wurden - gefilzt, gestickt, geschnitzt, getöpfert oder sogar aus Salzteig oder eben Pfefferkuchenteig gebacken -, aber auch solche, die von berühmten Illustratoren angefertigt wurden. Das sind dann allerdings keine zweidimensionalen Bilder, sondern große dreidimensionale Kunstwerke, bei denen jede einzelne Figur auf Papier gemalt, ausgeschnitten und aufgestellt wurde. Vertreten sind dabei Künstler, die fast schon in Vergessenheit geraten sind, aber auch bis heute verehrte "Stars" der ausgesprochen breit gefächerten tschechischen Illustratorenszene wie Josef Wenig, Marie Fischerová-Kvěchová und natürlich Josef Lada, dessen Bilder zum "Braven Soldaten Schwejk" und dem "Kater Mikesch" sich auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen. Gemeinsam ist all diesen Krippen übrigens, dass die Umgebung der berühmten Krippe mit dem Jesuskind so gar nicht nahöstlich anmutet. Die Gegend ist ausnahmslos verschneit, Kinder sind mit Muff und bunten Winterkleidern unterwegs, und bei Josef Lada gibt es sogar eine böhmische Blaskapelle. Die Kinder bringen dem Jesuskind Spielzeug, wie etwa ein Schaukelpferd, oder auch Milch und Brot, und alles sieht eher wie ein fröhliches Volksfest mitten in Böhmen als wie die ursprüngliche biblische Szenerie aus.

 
Während wir so durch den großen Saal des Rathauses von Trutnov schlenderten, kamen mir auch andere Bilder in den Sinn, die lange Zeit von anderen Eindrücken überlagert waren. Mehr als dreizehn Jahre zuvor waren wir schon einmal in einem Krippenmuseum gewesen: in der Nähe von Prag, auf der berühmten Burg Karlštejn. Da es uns ausgerechnet an einem Montag dorthin verschlagen hatte, waren die eigentlichen Burgtore natürlich - wie in fast jedem Museum in Europa - verschlossen geblieben, doch da wir nicht unverrichteter Dinge weiterfahren wollten, waren wir für das kleine Museum als Alternative sehr dankbar. So gerieten wir selbst im August unweigerlich in Weihnachtsstimmung, was bei einer Ansammlung von 50 Weihnachtskrippen und einer Sonderausstellung von Märchendarstellungen auf Pfefferkuchen auch kein Wunder war. Es gab Krippen aus allen nur erdenklichen Materialien und den verschiedensten Epochen bis hin zu musikalisch-mechanischen Krippen, die sich etwa hinter den Orchestrien im Märkischen Museum in Berlin keineswegs verstecken müssen. Das Prunkstück der Ausstellung ist die Königskrippe. Sie vereint in sich biblische und tschechisch-historische Elemente, und fast wird der Eindruck erweckt, als wäre Jesus am Fuß der Burg selbst zur Welt gekommen, und das auch nicht etwa vor 2000 Jahren, sondern zur Zeit der Ritter. Dennoch (oder eher gerade deshalb) ist das ganze Ensemble höchst sehenswert. Alle Persönlichkeiten, die auf der Burg Karlštejn Rang und Namen hatten, wurden verewigt: vom König selbst bis hin zu einem Ritterturnier und dem Hofmaler Karls IV., Meister Theoderich von Prag.

 
Auch wenn es auf der Burg durchaus Krippen zu sehen gab, die den traditionellen näher kamen, konnte man doch sowohl in Karlštejn als auch in Trutnov bemerken, dass man in Tschechien die Krippen und damit auch die Geburtsszene Jesu quasi adoptiert hat. Sie gehören zur Vorweihnachtszeit wie das Christkind zu Weihnachten, und damit scheint es nur allzu logisch, sie dann auch in eine altböhmische oder anderweitig vertraute Umgebung einzubetten.

(Dieser Blogeintrag ist ein Auszug aus der gleichnamigen, in meinem Buch „Höhenangst in Paris, böhmische Drachen und eine wenig bekannte Wiedergeburt“ im Anthea-Verlag erschienenen Reiseskizze. Sie können Sie auch in elektronischer Form in dem E-Book über das jeweilige Land erwerben.)
 
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