- Literatur - Reiseblog

Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Übers Reisen
Grenzerfahrungen

Geographische Gegebenheiten sind nicht immer gerecht verteilt. So hat Kroatien über 1700 Kilometer Küstenlänge an der Adria, rechnet man die Inseln mit, steigt diese Zahl auf geradezu unvorstellbare 5835 Kilometer an. Bosnien-Herzegowina dagegen verfügt über lediglich 20 Kilometer Küstenlänge; folgt man der gut ausgebauten Autostraße, sind es von einer Grenze zur anderen nicht einmal 10 Kilometer.

Möchte man von Norddalmatien in den kroatischen Süden fahren, um sich beispielsweise Dubrovnik mit seiner berühmten Stadtmauer anzusehen, muss man genau diese zehn Kilometer der Herzegowina passieren. Von unserem Urlaubsort aus waren bis Dubrovnik ungefähr 330 Kilometer zurückzulegen. Das wussten wir, und die Straßenschilder an der Autobahn wussten es auch. „Lieschen“ - so nennen wir unser Navigationssystem, seit wir bei dem ersten Gerät dieser Art die Auswahl zwischen den Stimmen „Wolfgang“ und „Lisa“ hatten und uns für Lisa entschieden haben - wusste es nicht. Zwar hatten wir wohlweislich eine Übernachtung in Dubrovnik eingeplant, aber mit einer zu fahrenden Strecke von 1598 Kilometern, die das Navi anzeigte, hatten wir keinesfalls gerechnet. Die Auflösung war so einfach wie verblüffend. Lieschen hatte keine Karte für Bosnien-Herzegowina gespeichert und wollte uns nun innerhalb Kroatiens nach Norden, dann westlich über das Festland nach Italien und von dort wieder gen Süden leiten, wo wir die letzten Kilometer nach Kroatien schließlich mit einer Fähre zurücklegen sollten. Wir schalteten Lieschen aus und verließen uns dann doch lieber auf die Schilder an der Autobahn.

Da der kroatische Automobilklub dafür sorgt, dass der Verkehrsfunk für das ganze Land halbstündlich wenigstens in drei Sprachen (Kroatisch, Englisch, Deutsch) und häufig auch auf Italienisch gesendet wird, lernt man bei genauerem Hinhören auch einige Ortsbezeichnungen kennen, mit denen man sonst auf seiner Reise nichts zu tun hat. Und so taucht im Sommer der Name Klek mit schöner Regelmäßigkeit auf, wenn es um die Meldungen geht, wie lange an welcher Landesgrenze zu warten sei. Dass das der Grenzort zu Bosnien-Herzegowina ist, stellte ich erst fest, als wir ihn selbst passierten. Allerdings war von den Fahrzeugkolonnen und Wartezeiten, die einem tagtäglich im Radio verheißen wurden, überhaupt nichts zu sehen, und auch unsere Pässe wurden im wahrsten Sinne des Wortes gerade einmal eines müden Blickes gewürdigt. An jeder der wirklich gut organisierten Maut-Stationen haben wir bedeutend mehr Zeit verbracht als an dieser EU-Außengrenze, die wir innerhalb von zwei Tagen nolens volens viermal überquerten.

Für mich war das ein sehr angenehmes Gefühl, auch wenn ich an Grenzkontrollen seit meiner frühesten Kindheit gewöhnt bin. Mit acht Jahren habe ich das erste Mal mit meinen Eltern an der Oderbrücke in Frankfurt darauf gewartet, dass unser Polen-Urlaub beginnen konnte, und auch in Brest und anderen ehemals sowjetischen Grenzbahnhöfen habe ich fast zwei Dutzend Male miterlebt, wie aufgrund der anderen Spurbreite die Fahrgestelle der Waggons gewechselt und gleichzeitig die Pässe der Fahrgäste überprüft wurden.

Mitunter kam es dabei zu skurrilen Situationen, wie bei einer meiner Rückreisen, als ich von einer Zollbeamtin intensiv befragt wurde, ob ich nicht auf der Hinfahrt vielleicht ein Auto nach Russland gebracht und dort verkauft hätte, obwohl der Stempel in meinem Pass eindeutig belegte, dass ich auch mit dem Zug eingereist war. In den 90er-Jahren konnte man offenbar nicht einmal den offiziellen Stempeln trauen.

Die deutsch-deutsche Grenze habe ich als Berlinerin im denkwürdigen Zeitraum vom Herbst 1989 bis zum Sommer 1990, als es noch Kontrollen gab,  ungezählte Male passiert und habe es als große Erleichterung empfunden, als die Kontrollen endlich wegfielen. Genauso ging es mir, als nach und nach die Landesgrenzen zumindest in Westeuropa nur noch anhand der blauen Straßenschilder mit den Sternen erkennbar waren, die anzeigten, dass an dieser Stelle ein anderes EU-Land anfing. Als ich (abgesehen von einigen Flugreisen, bei denen Passkontrollen natürlich immer noch völlig normal sind) vor fünf Jahren wieder an einer Grenze anstehen musste, um meinen Pass vorzuweisen - mitten in der Nacht im Niemandsland zwischen Bulgarien und der Türkei -, hatte ich mich um zwanzig Jahre zurückversetzt gefühlt.

Umso mehr erschien es mir nun wie ein Anachronismus, allerorten zu hören, dass die Grenzen der EU wieder gesichert werden müssten und dass Grenzkontrollen wieder eingeführt wurden. Die Reisefreiheit, die viel weiter ging, als der Begriff in meiner frühen Jugend auch nur definiert worden wäre, hatten wir doch einerseits sehr genossen und uns andererseits sehr daran gewöhnt. Zu sehen, dass sie - wenn auch unter etwas träger Beobachtung der kroatischen Grenzbeamten - doch noch existierte, freute mich aufrichtig, sodass ich die herrliche Landschaft, die hüben wie drüben an uns vorbeisauste, gleich doppelt genießen konnte.

Auf den Boden der derzeitigen Tatsachen zurückgeholt wurde ich allerdings in Österreich, wo die - wohlgemerkt - EU-Binnengrenze zu Slowenien auf eine Weise gesichert wurde, dass man sämtlichen Reisenden stundenlange Wartezeiten bescherte. Um jeden Neuankömmling gleich hinter dem Karawankentunnel kontrollieren zu können, wurde der Zugang zum Tunnel nur stoßweise freigegeben, ohne zwischen PKW und LKW zu unterscheiden. (Kontrolliert wurden auf der anderen Seite allerdings im Wesentlichen LKW.) In diesem Moment wurde mir klar, dass die wirkliche Reisefreiheit, wie wir sie in den letzten zwei Jahrzehnten erleben konnten, ein sehr fragiles und vielleicht gerade deshalb auch ein schützenswertes Gut ist.
 
Copyright 2015. All rights reserved.
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü