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Übers Reisen
 
Vom Sinn und Unsinn von Reisetagebüchern

 
Im Zeitalter von Blogs, Posts & Co. mag diese Überschrift schon anmuten wie aus einer anderen Zeit, dennoch soll sie all das umfassen, was man, wenn man unterwegs ist, in schriftlicher Form festhält – sei es nun altmodisch mit einem Stift auf Papier oder auch elektronisch.

Sind solche Aufzeichnungen inzwischen eigentlich obsolet, weil es viel kürzere und schnellere Kommunikationsformen gibt?

Mit 13 Jahren habe ich zum ersten Mal ein Reisetagebuch geführt – damals noch auf losen Zetteln, und meine Mutter durfte sich anschließend damit abplagen, das Ganze auf einer mechanischen Schreibmaschine abzutippen. Dank ihrem Einsatz sind aber auch diese Aufzeichnungen bis heute erhalten geblieben und haben den Grundstein gelegt für eine Gewohnheit, an der ich auf Reisen in der einen oder anderen Form immer noch festhalte.

 
War es zunächst in erster Linie ein Ventil, um all die Emotionen loszuwerden, die das Kennenlernen neuer Länder und Städte in mir auslöste, und die ganze Begeisterung, aber auch das Erstaunen über Unbekanntes mitzuteilen, bin ich später so der Angst davor entgegengetreten, dass etwas, das mir in diesen Momenten wichtig war, in Vergessenheit geraten könnte. Hierbei ging es häufig um Begegnungen, Eindrücke und ähnlich subjektive Erinnerungen, die man auch heute weder googeln noch sonstwie in den Weiten unserer Informationsgesellschaft finden kann.

 
Obwohl ich meine, mich in der Regel auf mein Gedächtnis verlassen zu können, habe ich inzwischen festgestellt, dass es genau dieses verhinderte Vergessen ist, das Tagebuchaufzeichnungen so wertvoll macht. Immerhin kann man auch in populärwissenschaftlichen Zeitschriften zunehmend lesen, dass das menschliche Gedächtnis alles andere als unfehlbar ist. Die Rechtspsychologin Julia Shaw sagte dazu unlängst in einem Fernsehinterview, unser Gedächtnis spiele mit uns selbst „Stille Post“. Je öfter wir etwas erzählen, umso mehr Details kommen hinzu, bis wir schließlich selbst der Meinung sind, es sei so und nicht anders gewesen. Diese Quintessenz muss allerdings nicht immer hundertprozentig mit dem tatsächlichen Geschehen übereinstimmen.

 
Zweimal bin ich einem solchen Stille-Post-Spiel bei mir selbst mit Hilfe alter Tagebücher auf die Schliche gekommen, und interessanterweise handelte es sich in beiden Fällen um Irrtümer über die Herkunft bestimmter Personen. So habe ich Ende der 1980er-Jahre in Moskau eine Gruppe junger Leute aus dem arabischen Raum kennengelernt, die ebenfalls Russisch sprachen, und wir hatten während des ganzen Aufenthaltes dort einen recht guten Kontakt zueinander, haben abends zusammengesessen, sind gemeinsam in die Disko gegangen etc. Seit Ausbruch des Syrien-Krieges habe ich mich immer wieder gefragt, was wohl aus ihnen geworden sein mochte, weil ich davon überzeugt war, dass es sich bei meinen damaligen Bekannten um Syrer gehandelt hat – bis ich durch Zufall wieder auf mein altes Tagebuch aus dieser Zeit gestoßen bin. Ich blätterte darin und stellte fest, dass meine Besorgnis zumindest in dieser Hinsicht unbegründet gewesen war, weil die jungen Leute von damals nicht aus Syrien, sondern aus Algerien stammten. Diese Information war in meinem Gedächtnis offenbar von den tagesaktuellen Nachrichten überlagert worden und so mit ihnen verschmolzen.

 
Der andere Irrtum trat zutage, als ich den ersten Eintrag für diesen Blog verfasste. Damals ging es um Reisebekanntschaften, und ich wollte unbedingt die Begegnung mit einem asiatischen Mädchen beschreiben, die ich kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands in einer Genfer Jugendherberge hatte. Damals hatten wir uns über Vor- und Nachteile solcher politischen Prozesse unterhalten, und immer, wenn ich später davon erzählt hatte, war ich mir sicher gewesen, dass meine Gesprächspartnerin aus Südkorea gekommen war und wir über die unterschiedlichen Chancen einer Wiedervereinigung in Deutschland und in Korea geredet hatten. Um diese Unterhaltung für den Blog noch einmal nachzuvollziehen, warf ich nun auch wieder einen Blick in meine alten Notizen – und musste erstaunt erkennen, dass es damals um China und Taiwan gegangen war, weil das Mädchen selbst aus Taiwan kam.

 
Nach diesen beiden Erlebnissen bin ich mit dem Vertrauen in das eigene Erinnerungsvermögen etwas vorsichtiger geworden, weil ich gemerkt habe, dass sich im Laufe der Jahrzehnte auch die eine oder andere nachträgliche Fehlinterpretation einschleichen kann. Umso mehr freut es mich aber, dass ich Aufzeichnungen habe, auf die ich im Zweifelsfall zurückgreifen kann. Das wusste schließlich schon der Schüler des Doktor Faust: „Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“
 
Dennoch sind Tagebücher in jeder Form beileibe kein Allheilmittel. So ist mir nun, nach über dreißig Jahren, beispielsweise ein Fehler in dem oben erwähnten allerersten Reisetagebuch aufgefallen, den ich vorher nie bemerkt hatte. Ich hatte damals die Bezeichnungen zweier Kirchen miteinander verwechselt und so diejenige, die mir am besten gefallen hatte, gedanklich unter einem falschen Namen abgespeichert. Dieser Irrtum wurde nun erst durch einen erneuten Besuch dieser Kirche und das anschließende Nachlesen und Fakten-Googeln offensichtlich.

Es verhält sich also mit Tagebüchern so wie mit allen anderen Dingen auch – sie haben sowohl Vor- als auch Nachteile. Da für mich aber der Nutzen eindeutig überwiegt, werde ich an der liebgewordenen Gewohnheit festhalten und weiterhin alles aufschreiben, was ich spannend finde und wobei es mir leid täte, geriete es in Vergessenheit.
 
                                                                                                                                                                        
 
 
 
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